Maigret - 26 - Maigret regt sich auf
beleibter Campois mit Bürstenhaarschnitt, an dessen Schulter der Kopf einer Frau mit wulstigen Lippen und sanftem Schafsblick lehnte.
Gleich rechts daneben ein etwa zwanzigjähriger Mann mit schmalerem Gesicht als seine Eltern, ebenfalls sanften Augen, in äußerst schüchterner Haltung. Und an diesem Rahmen ein Trauerflor.
Maigret näherte sich einem mit Fotografien vollgestellten Klavier, als die Tür aufging. Campois stand auf der Schwelle, und er erschien dem Kommissar kleiner und älter als das erste Mal, da er ihm begegnet war.
Trotz seiner breiten Schultern und seiner bäuerlichen Robustheit war er schon ein sehr alter Mann.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er einleitend. »Ich habe es nicht ablehnen können, Sie zu empfangen, aber ich habe Ihnen nichts mitzuteilen. Ich breche in wenigen Minuten zu einer längeren Reise auf.«
»Wo gehen Sie an Bord, Monsieur Campois?«
»In Le Havre, das ist der Ausgangspunkt der Kreuzfahrt.«
»Sie werden sicher den Zug um acht Uhr zweiundzwanzig von Paris nehmen? Das schaffen Sie bequem.«
»Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe noch zu packen. Außerdem habe ich nicht zu Abend gegessen. Ich wiederhole, daß ich Ihnen absolut nichts zu sagen habe.«
Wovor hatte er Angst? Denn er hatte Angst, das konnte man sehen. Er war in Schwarz gekleidet mit einem schwarzen Selbstbinder, und sein weißer Teint hob sich deutlich im Dämmerlicht des Zimmers ab. Er hatte die Tür offengelassen, als ob er zu verstehen geben wollte, daß dieses Gespräch nicht von Dauer sein konnte, und er bat seinen Besucher nicht, Platz zu nehmen.
»Haben Sie öfter an Kreuzfahrten dieser Art teilgenommen?«
»Es ist …«
Würde er lügen? Ihm war mit Sicherheit danach. Man hatte den Eindruck, daß ihm jemand fehlte, der ihm vorsagen konnte. Seine alte Aufrichtigkeit gewann die Oberhand. Er konnte nicht lügen. Er gestand:
»Es ist das erste Mal.«
»Und Sie sind fünfundsiebzig Jahre alt?«
»Siebenundsiebzig.«
Also los! Er mußte alles auf eine Karte setzen. Der arme Mann hatte nicht das Format, sich lange zu wehren, und sein ängstlicher Blick bewies, daß er von vornherein besiegt war, und vielleicht hatte er sich in diese Niederlage gefügt.
»Ich bin davon überzeugt, Monsieur Campois, daß Sie vor drei Tagen von dieser Reise noch nichts gewußt haben. Ich wette sogar, daß sie Ihnen ein wenig Angst macht. Die norwegischen Fjorde, in Ihrem Alter!«
Wie eine auswendig gelernte Lektion stammelte er:
»Ich habe schon immer mal nach Norwegen gewollt.«
»Aber Sie hatten nicht die Absicht, die Reise in diesem Monat anzutreten! Das hat sich ein anderer für Sie ausgedacht, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen. Mein Enkel und ich …«
»Ihr Enkel muß genauso erstaunt gewesen sein wie Sie. Es ist im Augenblick unwichtig, wer diese Kreuzfahrt für Sie organisiert hat. Oder wissen Sie, wo die Fahrkarten gekauft worden sind?«
Er wußte es nicht, sein verdutzter Blick verriet es. Man hatte ihm seine Rolle diktiert. Er spielte sie mit voller Überzeugung. Aber es gab Zwischenfälle, die man nicht vorhergesehen hatte, unter anderem dieser unerwartete Besuch Maigrets, und der arme Mann wußte nicht mehr ein noch aus.
»Hören Sie, Herr Kommissar, ich wiederhole, daß ich Ihnen nichts mitzuteilen habe. Ich bin hier zu Hause. In einer Stunde gehe ich auf Reisen. Geben Sie zu, daß ich das Recht habe, Sie zu bitten, mich in Ruhe zu lassen.«
»Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihren Sohn zu sprechen.«
Er hatte es geahnt, der alte Campois geriet in Verwirrung, er wurde ganz blaß und warf einen verzweifelten Blick auf das Porträt.
»Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen«, wiederholte er, sich an diesen Satz klammernd, der keine Bedeutung mehr hatte.
Maigret spitzte die Ohren, denn er hatte in der Diele ein leises Geräusch vernommen. Auch Campois schien es gehört zu haben, er wandte sich der Tür zu und sagte:
»Laß uns, Eugénie. Das Gepäck kann ins Auto geladen werden. Ich komme gleich.«
Diesmal schloß er die Tür und setzte sich mechanisch auf seinen Platz vor dem Schreibpult, das ihn während seiner langen Laufbahn begleitet haben mußte. Maigret setzte sich ihm gegenüber, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.
»Ich habe über den Tod Ihres Sohnes lange nachgedacht, Monsieur Campois.«
»Warum wollen Sie mit mir darüber sprechen?«
»Das wissen Sie genau. In der letzten Woche ist ein junges Mädchen, das Sie kennen, unter ähnlichen
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