Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
Inspektor von Scotland Yard englisch, vielleicht nur aus Höflichkeit. Er sagte ein einziges Wort zu seinem französischen Kollegen: »Please …«
Auf der Treppe ging Jojo mit dem Koffer voran. Ihr Kleid war sehr kurz, und man konnte ihr rosa Höschen sehen. Sicherlich hatte das Ginette bewegt, ihren Rock an sich zu pressen.
Außer dem Bett war nur ein Rohrstuhl als Sitzgelegenheit vorhanden, denn es war das kleinste Zimmer im Hause und wurde nur durch eine Luke schwach erhellt. Ginette setzte ihren Hut ab, ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Bettrand fallen und zog dann gleich ihre Schuhe mit den sehr hohen Absätzen aus. Mit den Fingern massierte sie ihre schmerzenden Füße, die in seidenen Strümpfen steckten.
»Ist es Ihnen unangenehm, daß ich Sie gebeten habe, mit heraufzukommen? Aber unten kann ich nicht mit Ihnen sprechen, und das Gehen fällt mir schwer. Sehen Sie meine Knöchel an: sie sind ganz geschwollen. Sie können ruhig Ihre Pfeife rauchen, Herr Kommissar.«
Sie fühlte sich nicht recht behaglich. Man spürte, daß sie nur redete, um etwas zu reden und so Zeit zu gewinnen.
»Sind Sie mir sehr böse?«
Obwohl er ihre Frage richtig verstanden hatte, versuchte er auch Zeit zu gewinnen, indem er antwortete:
»Worüber?«
»Ich weiß sehr wohl, daß Sie enttäuscht gewesen sind. Dennoch ist das nicht so sehr meine Schuld. Durch Ihre Hilfe habe ich die glücklichsten Jahre meines Lebens im Sanatorium verbracht. Ich brauchte mich um nichts zu sorgen. Der Arzt dort, der Ihnen übrigens ein wenig ähnelte, war sehr liebenswürdig zu mir. Er brachte mir Bücher, und ich las den ganzen Tag. Bevor ich dorthin kam, war ich ein ziemlich dummes Geschöpf. Aber er erklärte mir dann alles, was ich nicht verstand. Haben Sie nicht eine Zigarette für mich? Nun, das macht nichts. Es ist sowieso besser, wenn ich nicht rauche.
Ich bin fünf Jahre im Sanatorium geblieben und hatte schließlich das Gefühl, ich würde immer dort bleiben. Mir war das ein sehr angenehmer Gedanke. Im Gegensatz zu den anderen hatte ich gar kein Verlangen, wieder herauszukommen. Als man mir sagte, ich sei geheilt und könne wieder nach Hause, war ich mehr erschrocken als froh. Das kann ich Ihnen schwören. Man konnte von dort das ganze, immer von einem leichten Nebel verhüllte Tal sehen. Manchmal breiteten sich dichte Wolken darüber, und ich hatte Angst, wieder in die Welt zurückzukehren. Ich wäre gern als Schwester dort geblieben, aber mir fehlten die dazu nötigen Kenntnisse, und für die Hausarbeit oder als Küchenmädchen war ich körperlich nicht stark genug.
Was sollte ich da unten tun? Ich hatte mich daran gewöhnt, dreimal am Tag zu essen, und ich wußte, bei Justine würde ich das bekommen.«
»Warum sind Sie heute gekommen?« fragte Maigret in ziemlich kühlem Ton.
»Habe ich es Ihnen nicht vorhin gesagt? Ich bin zuerst nach Hyères gefahren. Ich wollte nicht, daß der arme Marcel ohne jedes Geleit beerdigt würde.«
»Liebten Sie ihn immer noch?«
Sie machte ein leicht verlegenes Gesicht.
»Ich glaube, ich habe ihn wirklich geliebt. Ich habe Ihnen das ja schon damals, als Sie sich nach seiner Verhaftung meiner annahmen, gesagt. Er war kein schlechter Mensch. Im Grunde war er naiv, ich möchte sogar sagen, schüchtern. Und gerade weil er schüchtern war, wollte er es so wie die anderen machen. Nur übertrieb er es eben. Da oben ist mir das alles klargeworden.«
»Und Sie haben ihn dann nicht mehr geliebt?«
»Ich habe ihn nicht mehr auf die gleiche Weise geliebt. Ich lernte andere Leute kennen. Ich konnte Vergleiche anstellen. Der Doktor half mir, vieles zu begreifen.«
»Waren Sie in ihn verliebt?«
Sie lächelte ein wenig nervös.
»Ich glaube, in einem Sanatorium ist man immer mehr oder weniger in seinen Arzt verliebt.«
»Schrieb Marcel Ihnen?«
»Von Zeit zu Zeit.«
»Hoffte er, wieder mit Ihnen zusammenzuleben?«
»Anfangs, glaube ich, wohl. Dann hat er sich auch verändert, aber wir haben uns beide auf verschiedene Art verändert. Er ist sehr schnell gealtert, ja fast plötzlich gealtert. Ich weiß nicht, ob Sie ihn wiedergesehen haben. Früher war er eitel und sehr darauf aus, sich zu pflegen. Er war stolz auf sich. Das hat angefangen, als er durch einen Zufall an die Küste kam.«
»Hat er Sie an Justine und Emil vermittelt?«
»Nein. Ich kannte Justine dem Namen nach und habe mich selber bei ihr vorgestellt. Sie hat mich probeweise als ihre Stellvertreterin engagiert, denn zu
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