Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
Stadt fahre und sie auf einem herausgerissenen Blatt notiert, was ich ihr mitbringen soll.
Zuoberst steht der Name meines Neffen, und ich verstehe. Es ist der Sohn ihrer Schwester. Ich habe ihn einst, da er noch das heilige Feuer in sich lodern fühlte, bei der Polizei untergebracht.
Simenon hat von ihm erzählt, dann ist der Junge plötzlich aus seinen Büchern verschwunden, und ich kann verstehen, weshalb Louise sich Sorgen macht. Sie wird sich sagen, daß mancher Leser das verdächtig finden muß, als ob ihr Neffe irgendeine Dummheit begangen hätte.
Die Wahrheit ist ganz einfach. Er hat sich nicht als so brillant erwiesen, wie er zu sein hoffte. Und er hat dem Drängen seines Schwiegervaters, eines Seifenfabrikanten in Marseille, nicht lange widerstanden, als dieser ihm einen Posten in seiner Fabrik anbot.
Der Nächste auf der Liste ist Torrence, der dicke Torrence, der laute Torrence (ich glaube, Simenon hat ihn irgendwo tot gemeldet, anstelle eines andern Inspektors, der tatsächlich in einem Hotel an den Champs-Élysées vor meinen Augen umgebracht wurde).
Torrence hatte zwar keinen Schwiegervater in der Seifenbranche, aber einen unbändigen Lebenshunger, verbunden mit einem Geschäftssinn, der sich mit dem Beamtendasein nur schwer in Einklang bringen ließ.
Er hat uns verlassen und sein eigenes Detektivbüro eröffnet, eine durchaus seriöse Firma, das füge ich sogleich hinzu, denn es ist nicht immer selbstverständlich. Aber noch lange danach ist er ab und zu am Quai aufgetaucht, um uns um einen Gefallen oder eine Auskunft zu bitten oder auch einfach um wieder einmal die Luft im Haus zu atmen.
Er fährt einen großen amerikanischen Wagen. Hin und wieder hält er vor unserer Haustür an, immer begleitet von einer hübschen Frau, immer einer anderen, die er uns mit immer der gleichen Offenheit als seine Braut vorstellt.
Ich lese den dritten Namen. Der kleine Janvier, wie wir ihn stets genannt haben. Er ist immer noch am Quai. Sehr wahrscheinlich nennen sie ihn heute noch den Kleinen.
In seinem letzten Brief teilte er mir nicht ohne eine gewisse Melancholie mit, daß seine Tochter einen Absolventen der École polytechnique heiraten wird.
Und schließlich Lucas. Zu dieser Stunde sitzt er wahrscheinlich wie üblich in meinem Büro, an meinem Platz, eine meiner Pfeifen im Mund, die er mit Tränen in den Augen als Andenken von mir erbeten hat.
Ein letztes Wort beendet die Liste. Erst habe ich es für einen Namen gehalten, aber ich kann es beim besten Willen nicht entziffern.
Soeben bin ich in die Küche eingedrungen, wo ich zu meiner Überraschung eine wahre Sonnenflut vorgefunden habe. Bei mir drüben sind die Läden geschlossen, weil ich mir einbilde, im Halbdunkel lasse sich besser arbeiten.
»Fertig?«
»Nein. Da ist ein Wort, das ich nicht lesen kann.«
Sie ist sehr verlegen geworden.
»Es ist überhaupt nicht wichtig.«
»Was bedeutet es?«
»Nichts. Du kannst es ruhig vergessen.«
Natürlich habe ich weitergebohrt.
»Der Pflaumenschnaps!« hat sie endlich gestanden und den Kopf abgewendet.
Sie wußte, ich würde in Gelächter ausbrechen, und sie täuschte sich nicht.
Als es um meinen berühmten steifen Hut ging, meinen Überzieher mit dem Samtkragen, meinen Kohleofen und meinen Schürhaken, spürte ich genau, daß sie meinen Drang zu berichtigen kindisch fand.
Dennoch hat sie nun selber – mit Absicht unleserlich, dessen bin ich sicher, als ob sie sich schämte – das Wort »Pflaumenschnaps« zuunterst auf die Liste gekritzelt, und das ist etwa so, wie wenn sie auf der Einkaufsliste, die sie mir in die Stadt mitgibt, einen typisch weiblichen Gebrauchsartikel notiert hat und mich dann aus lauter Hemmungen kaum zu bitten wagt, ihn für sie zu besorgen.
Simenon hat eine gewisse Flasche erwähnt, die immer in unserem Büfett am Boulevard Richard-Lenoir stand. Auch jetzt noch steht eine hier, und jedes Jahr, wenn meine Schwägerin uns besucht, bringt sie einer heilig gewordenen Tradition gemäß wieder neuen Nachschub aus dem Elsaß mit.
Ungenau, wie er ist, hat Simenon geschrieben, es sei Pflaumenschnaps.
Dabei ist es Himbeergeist. Und für einen Elsässer soll das scheint’s ein himmelweiter Unterschied sein.
»Ich habe es korrigiert, Louise. Deine Schwester wird sich freuen.«
Diesmal habe ich die Küchentür offen gelassen.
»Ist das alles?«
»Sag den Simenons, ich hätte Söckchen zu stricken begonnen für …«
»Aber hör mal, das hier ist doch kein Brief!«
»Ach ja,
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