Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
einen Stapel Bücher, die er beim Hereinkommen auf meinen Schreibtisch gelegt und die ich bisher nicht beachtet hatte.
»Das sind die Bücher, die von Spezialisten in den letzten zwanzig Jahren über das Thema Polizei geschrieben worden sind, lauter wahre Geschichten, mit der ganzen Wahrheit drin, die Sie so gern haben.
Lesen Sie sie! Die meisten der hier geschilderten Ermittlungsverfahren kennen Sie von A bis Z.
Ich wette aber, daß Sie sie nicht mehr wiedererkennen, gerade weil das Bemühen um Objektivität die Wahrheit, die immer einfach ist, immer einfach sein muß, verfälscht.
Und jetzt …«
Nun denn, ich will es lieber gleich bekennen: Dies war der Augenblick, da mir klar wurde, wo mich der Schuh drückte.
Er hatte recht, bei Gott, und zwar in allen Punkten. Auch mir war es völlig egal, ob er die Zahl der Inspektoren verringerte oder nicht, ob er mich an ihrer Stelle ganze Nächte im Regen stehenließ und ob er, mit oder ohne Absicht, die ›Sûreté Nationale‹ mit der Kriminalpolizei verwechselte.
Was mich wirklich erschütterte, und was ich mir selber noch nicht eingestehen wollte, war …
Gott, ist das schwierig!
Denken Sie an meinen Vergleich mit dem Herrn, der seine Fotografie betrachtet!
Nur ein kleines Beispiel: die Sache mit dem steifen Hut. Ich weiß, es klingt lachhaft, aber ich muß gestehen, daß dieses blödsinnige Detail mir mehr als jedes andere zugesetzt hat.
Als der junge Sim zum erstenmal am Quai des Orfèvres aufkreuzte, hatte ich in meinem Schrank einen steifen Hut liegen, aber ich trug ihn nur noch bei seltenen Gelegenheiten, zu Beerdigungen oder offiziellen Anlässen.
Zufällig hing in meinem Büro ein vor Jahren aufgenommenes Bild von irgendeinem Kongreß, und auf dem Foto war ich mit diesem verfluchten Hut verewigt.
Und das wiederum hatte zur Folge, daß ich mir heute noch, wann immer ich Leuten vorgestellt werde, die mich nie gesehen haben, die Bemerkung gefallen lassen muß:
»Sieh mal an! Sie tragen nicht mehr den gleichen Hut!«
Was den berühmten Überzieher mit dem Samtkragen betrifft, so hat Simenon sich zwar nicht mit mir, wohl aber eines Tages mit meiner Frau auseinandersetzen müssen.
Es stimmt, ich habe einmal einen besessen. Ich habe sogar mehrere besessen, wie alle meine Zeitgenossen. Vielleicht auch habe ich um 1927 herum, an Tagen, da es besonders kalt war oder wie mit Eimern goß, einen dieser alten Mäntel aus dem Schrank geholt.
Ich bin nicht kokett. Ich mache mir nichts aus Eleganz. Aber vielleicht habe ich gerade deshalb einen solchen Horror vor allem, was auffällig wirkt. Und meinem kleinen jüdischen Schneider an der Rue de Turenne liegt ebensowenig wie mir daran, daß man sich auf der Straße nach mir umdreht.
»Was kann ich dafür, daß ich Sie so sehe?« hätte Simenon mir entgegnen können, wie der Maler, der seinem Modell eine krumme Nase oder schielende Augen ins Gesicht setzt.
Mit dem Unterschied, daß besagtes Modell nicht Auge in Auge mit seinem Porträt leben muß bis ins hohe Alter und daß es nicht Tausende von Leuten gibt, die fortan allen Ernstes glauben, es habe eine krumme Nase oder es schiele.
Von alledem sagte ich an jenem Morgen nichts. Den Blick in die Ferne gerichtet, begnügte ich mich schamhaft mit der Frage:
»Mußten Sie unbedingt auch mich vereinfachen?«
»Zu Beginn ja, gewiß. Der Leser muß sich an Sie, an Ihre Silhouette, Ihren Gang gewöhnen. Jetzt ist mir, glaube ich, das passende Won eingefallen. Im Augenblick sind Sie nicht mehr als eine Silhouette, ein Rücken, eine Pfeife, eine Art zu gehen, zu brummen.«
»Danke.«
»Aber nach und nach werden die Einzelheiten zum Vorschein kommen, Sie werden sehen. Es kann eine Weile dauern, ich weiß nicht wie lange. Mit der Zeit werden Sie ein nuancierteres, komplexeres Leben zu führen beginnen.«
»Das klingt ja beruhigend.«
»Bis jetzt haben Sie zum Beispiel immer noch kein Familienleben, obgleich der Boulevard Richard-Lenoir und Madame Maigret mindestens Ihr halbes Dasein ausmachen. Sie haben erst ein paarmal zu Hause angerufen, aber man wird Sie schon noch dort sehen.«
»In Hausrock und Pantoffeln?«
»Sogar im Bett.«
»Ich trage Nachthemden«, sagte ich ironisch.
»Ich weiß. Das paßt zu Ihnen. Auch wenn Sie sich an Pyjamas gewöhnt hätten, würde ich Sie in ein Nachthemd stecken.«
Ich frage mich, wie diese Unterhaltung geendet hätte – wahrscheinlich mit einem Bombenkrach –, wenn mir nicht ein kleiner Spitzel aus der Rue Pigalle gemeldet
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