Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
den Zeitungen gelesen, daß Anatole France, der doch gewiß ein kluger Mann war und viel für Ironie übrig hatte, sich einst vom Maler van Dongen porträtieren ließ und dann nicht nur die Entgegennahme des Bildes verweigerte, sondern sogar dessen Ausstellung verbot.
Etwa um die gleiche Zeit hat eine berühmte Schauspielerin einen sensationellen Prozeß gegen einen Karikaturisten angestrengt, weil sie fand, seine Zeichnung von ihr sei eine Beleidigung und schade ihrer Karriere.
Ich bin weder Mitglied der ›Académie‹ noch ein Bühnenstar. Ich glaube nicht, daß ich an Überempfindlichkeit leide. In all den Jahren meines beruflichen Lebens habe ich kein einziges Mal eine Berichtigung an die Presse geschickt, obschon sie meine Handlungen oder meine Methoden oft genug kritisierte.
Es ist nicht mehr jedermanns Sache, sich von einem Maler porträtieren zu lassen, aber jeder macht heutzutage seine Erfahrungen mit Fotografen. Und ich nehme an, jeder kennt dieses Unbehagen, das man vor dem eigenen Bild empfindet, wenn es nicht ganz der Wirklichkeit entspricht.
Ob der Leser versteht, was ich sagen will? Fast schäme ich mich, meinen Worten so viel Nachdruck zu geben. Ich weiß, daß ich an einen wesentlichen, hochempfindlichen Punkt rühre, und – was mir selten passiert – ich habe plötzlich Angst, mich lächerlich zu machen.
Ich glaube, mir wäre es ziemlich gleichgültig, wenn man mich völlig anders schilderte, als ich bin, und grenzte es auch – wenn es unbedingt sein müßte – an Verleumdung.
Ich will zum Vergleich mit der Fotografie zurückkehren. Das Objektiv gestattet keine absolute Ungenauigkeit. Das Bild ist anders als die Wirklichkeit und doch nicht anders. Wird uns ein Abzug gezeigt, so ist es uns oft unmöglich, den Finger auf das Detail zu legen, das uns stört, unmöglich zu sagen, was anders ist, als wir sind, was wir nicht als zu uns passend wiedererkennen.
Ja, und genau so ist es mir jahrelang mit dem Maigret von Simenon ergangen. Ich sah ihn an meiner Seite wachsen von Tag zu Tag und so groß werden, daß die einen mich später ehrlich fragten, ob ich seine Ticks übernommen hätte, die anderen, ob mein Name wirklich mein Familienname sei oder ob ich ihn mir vom Autor geborgt hätte.
Ich habe so gut wie möglich zu erklären versucht, wie das Ganze angefangen hat, wie harmlos im Grunde, ohne daß sich irgendwelche Folgen abzuzeichnen schienen.
Schon allein die Jugend des Bürschchens, das der gute Xavier Guichard mir eines Tages in seinem Büro vorstellte, hätte mich eher zu einem Achselzucken als zum Mißtrauen bewegen sollen.
Und doch, schon wenige Monate später war ich in einem Räderwerk gefangen, aus dem ich mich nie mehr befreit habe und von dem mich auch die Seiten, die ich jetzt vollschmiere, nie ganz erlösen werden.
»Was jammern Sie denn? Sie sind eine Berühmtheit!«
Ich weiß, ich weiß! Das sagt man, wenn man so etwas selber nie durchgemacht hat. Ich gebe zu, in gewissen Augenblicken, unter gewissen Umständen ist es sogar nicht einmal unangenehm. Nicht nur, weil es die Eigenliebe befriedigt. Oft auch aus praktischen Gründen. Und wäre es zum Beispiel nur, weil man in der Bahn oder in einem überfüllten Restaurant einen guten Platz kriegt oder weil man nirgends Schlange stehen muß.
Jahrelang habe ich mich nicht gewehrt, so wie ich nie eine Berichtigung an die Zeitungen geschickt habe.
Und jetzt will ich nicht auf einmal behaupten, ich hätte innerlich gekocht oder mich nur mit Mühe beherrscht oder dergleichen. Es wäre übertrieben, und Übertreibungen sind mir zuwider.
Nichtsdestoweniger habe ich mir geschworen, eines Tages ganz ruhig, ohne Zorn und Ärger zu sagen, was ich zu sagen habe, und die Dinge ein für allemal klarzustellen.
Dieser Tag ist jetzt gekommen.
Warum ›Memoiren‹? Es ist, wie gesagt, nicht meine Schuld. Ich habe den Titel nicht ausgesucht.
In diesem Buch geht es weder um Mestorino noch um Landru noch um den Anwalt aus dem Massif Central, der seine Opfer umbrachte, indem er sie in eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Badewanne tauchte.
Es geht ganz einfach darum, eine Person mit einer Person, eine Wahrheit mit einer Wahrheit zu konfrontieren.
Sie werden gleich sehen, was gewisse Leute unter Wahrheit verstehen.
Es geschah in der ersten Zeit, als jener anthropometrische Ball nebst anderen mehr oder weniger spektakulären und geschmackvollen Veranstaltungen dazu dienten, etwas, das man schon als die »ersten Maigrets« zu bezeichnen
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