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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Selbstsicherheit mir manchmal auf die Nerven fiel. Er ist im Gegenteil eher schweigsam geworden, er äußert sich mit einer gewissen Zurückhaltung, über Dinge vor allem, die ihm nahe gehen, er fürchtet etwas rundweg zu behaupten, er lauert, ich schwöre es, förmlich darauf, daß ich ihm zustimme.
    Ob ich ihn nochmals in die Zange nehmen soll? Ein kleines bißchen, trotz allem. Es wird ja wohl das letzte Mal sein. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, die Gelegenheit ist zu schön.
    In den rund vierzig Büchern, die er meinen Untersuchungen gewidmet hat, finden sich wahrscheinlich etwa zwanzig Anspielungen auf meine Herkunft, meine Familie, ein paar Worte über meinen Vater und seinen Beruf als Schloßverwalter, über das Gymnasium in Nantes, das ich einige Jahre lang besuchte, ein paar sehr knappe Hinweise auf die zwei Jahre, da ich Medizin studierte.
    Der gleiche Mann hat nun aber fast achthundert Seiten gebraucht, um die Geschichte seiner eigenen Kindheit bis zum sechzehnten Lebensjahr zu erzählen. Daß er dies in Romanform getan hat, und ob die handelnden Personen der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, spielt keine Rolle; sicher ist, daß er glaubte, sein Held sei unvollständig, solange dieser nicht von seinen Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten begleitet war, deren Schrullen und Krankheiten, Unarten und Geschwüre uns eingehend geschildert werden, und selbst noch dem Hund der Nachbarin räumt er eine halbe Seite ein.
    Ich nehme es ihm nicht übel. Wenn ich es überhaupt erwähne, so ist dies nur eine indirekte Art, mich jetzt schon gegen den möglichen Vorwurf zu wehren, ich verbreitete mich allzu selbstgefällig über meine Angehörigen.
    Ein Mensch ohne Vergangenheit ist für mich kein ganzer Mensch. Im Lauf meiner Untersuchungen konnte es immer wieder geschehen, daß ich der Familie und der Umgebung eines Verdächtigen mehr Zeit widmete als dem Verdächtigen selbst, und oft habe ich auf diesem Weg den Schlüssel zu einem Geheimnis entdeckt, das sonst ebensogut ein Geheimnis hätte bleiben können.
    Simenon schreibt, ich sei in Mittelfrankreich geboren, unweit von Moulins, und das stimmt; aber meines Wissens hat er nirgends davon gesprochen, daß das Schloßgut, das mein Vater verwaltete, dreitausend Hektare umfaßte und daß nicht weniger als sechsundzwanzig Pachthöfe dazugehörten.
    Einer der Pächter war mein Großvater, ich habe ihn noch gekannt; aber schon vor ihm hatten mindestens drei Generationen von Maigrets das gleiche Stück Land bewirtschaftet.
    Mein Vater war noch jung, als eine Typhusepidemie mehr als die halbe Familie dahinraffte. Von den sieben oder acht Kindern blieben nur zwei am Leben, mein Vater und eine Schwester. Die Schwester heiratete später einen Bäcker und ließ sich in Nantes nieder.
    Warum hat mein Vater mit einer ehrwürdigen Tradition gebrochen und das Gymnasium in Moulins besucht? Es ist anzunehmen, daß der Dorfpfarrer sich für ihn eingesetzt hat. Und doch war es kein Bruch, denn nach zwei Studienjahren an einer Landwirtschaftsschule kehrte er ins Dorf zurück und trat als Hilfsverwalter in die Dienste der Schloßherrschaft ein.
    Ich habe immer Hemmungen, von ihm zu sprechen. Wirklich, ich habe immer das Gefühl, die Leute denken:
    »Er sieht seine Eltern immer noch so, wie er sie als Kind gesehen hat.«
    Und ich habe mich während langer Zeit gefragt, ob ich mich nicht vielleicht täuschte, ob es mir nicht an Kritikvermögen mangelte.
    Ich bin aber auch anderen Männern wie ihm begegnet, vor allem in Kreisen seiner Generation und der gleichen sozialen Schicht, dem sogenannten Mittelstand.
    Für meinen Großvater gehörten die Leute vom Schloß, ihre Rechte, ihre Privilegien, ihr Verhalten zu den Dingen, über die man nicht sprach. Wie er im Stillen über sie dachte, habe ich nie erfahren. Ich war ein Kind, als er starb. Und doch, wenn ich an einen bestimmten Ausdruck in seinem Gesicht, vor allem aber an bestimmte Augenblicke des Schweigens zurückdenke, zweifle ich nicht daran, daß er die Dinge, so wie sie waren, nicht einfach passiv billigte; es ging nicht einmal immer um Billigung, auch nicht um Resignation, es hing vielmehr mit einem gewissen Stolz und insbesondere mit einem ausgeprägten Pflichtgefühl zusammen.
    In Männern vom Schlag meines Vaters lebte dieses Gefühl weiter. Verbunden mit Zurückhaltung, einem Bedürfnis, den Anstand zu wahren, mochte es den Anschein von Resignation erwecken.
    Ich sehe ihn deutlich vor mir. Ich habe Fotografien von

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