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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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einem der wohl düstersten Büros des ganzen Justizpalastes, im Erdgeschoß, mit nur einer kleinen Tür zum Hof, die ich offen gelassen hatte.
    Ich blieb dieser Tür so nahe, wie es meine Arbeit zuließ. Ich sehe noch, wie die Sonne den Hof mitten entzweischnitt, auch den Gefängniswagen, der dort stand. Die beiden Pferde stampften ab und zu auf das Pflaster, und hinter ihnen dampfte ein schöner Haufen goldbrauner Roßäpfel in der noch kühlen Luft.
    Ich weiß nicht, weshalb der Hof mich an Schulpausen im Gymnasium denken ließ, in der gleichen Jahreszeit, wenn die Luft plötzlich zu duften beginnt und die Haut von all dem Herumlaufen nach Frühling riecht.
    Ich saß allein im Büro. Das Telefon klingelte.
    »Würden Sie Maigret sagen, der Chef wolle ihn sprechen.«
    Es war die Stimme des alten Bürodieners von oben, der fast fünfzig Jahre lang den gleichen Posten versehen hat.
    »Ich bin es selber.«
    »Gut, kommen Sie bitte herauf!«
    Sogar die breite, immer verstaubte Treppe sah heiter aus, weil die Sonnenstrahlen schräg hereinfielen wie in den Kirchen. Der Morgenrapport war gerade zu Ende. Zwei Kommissare, ihre Aktenmappen unter den Arm geklemmt, plauderten noch vor der Tür zum Büro des großen Chefs, als ich anklopfte.
    Und drinnen hing noch der Rauch aus den Pfeifen und Zigaretten der Männer, die soeben hinausgegangen waren. Ein Fenster stand offen hinter Xavier Guichard, und die Sonne verfing sich in seinem weißen seidenen Haar.
    Er reichte mir nicht die Hand. Das tat er im Büro fast nie. Dabei waren wir Freunde geworden, das heißt, er hatte meine Frau und mich mit seiner Freundschaft zu beehren beliebt. Ein erstes Mal hatte er mich allein in seine Wohnung am Boulevard Saint-Germain eingeladen. Diese lag nicht etwa im wohlhabenden und snobistischen Teil, sondern gegenüber der Place Maubert in einem großen Neubau, der zwischen windschiefen Häusern und schäbigen Hotels in die Höhe ragte.
    Später war ich mit meiner Frau wieder bei ihm gewesen. Die beiden hatten sich sofort sehr gut verstanden.
    Er empfand Zuneigung für sie, für mich, gewiß; und dennoch hat er uns oft verletzt, ohne es zu wollen.
    In der ersten Zeit pflegte er, sooft er Louise sah, mit vielsagenden Blicken ihre Taille zu betrachten, und wenn wir nicht gleich zu verstehen schienen, räusperte er sich und sagte:
    »Vergessen Sie nicht, daß ich darauf bestehe, Pate zu werden. Lassen Sie mich nicht zu lange warten …«
    Jahre waren vergangen. Es mußte bei ihm ein Mißverständnis gewesen sein, denn ich erinnere mich, wie er mir meine erste Gehaltsaufbesserung mit den Worten ankündigte:
    »Das dürfte dazu beitragen, daß Sie mir bald ein Patenkind bescheren.«
    Er hat nie verstanden, weshalb wir erröteten, weshalb meine Frau die Augen niederschlug und ich nach ihrer Hand tastete, um sie zu streicheln.
    An dem bewußten Morgen wirkte er sehr ernst, wie er da im Gegenlicht saß. Er ließ mich stehen, und ich wand mich innerlich vor Verlegenheit, während er mich von Kopf bis Fuß so eindringlich musterte, als wäre er ein Feldwebel und ich ein Rekrut.
    »Wissen Sie, Maigret, daß Sie Fett ansetzen?«
    Ich war dreißig. Nach und nach hatte ich an Gewicht zugenommen, meine Schultern waren breiter, mein Brustumfang größer geworden; immerhin hatte ich es noch nicht bis zu der stattlichen Figur meiner späteren Jahre gebracht.
    Erste Ansätze waren jedoch vorhanden. Ich muß damals etwas Weiches, Babyhaftes an mir gehabt haben. Es fiel mir selber auf, wenn ich an einem Schaufenster vorüberkam und meine Silhouette in dem spiegelnden Glas erblickte.
    Ich schwankte zwischen zuviel und zuwenig, und kein Anzug saß mehr richtig.
    »Ich glaube, ich werde dick, stimmt.«
    Um ein Haar hätte ich mich entschuldigt, denn ich hatte noch nicht gemerkt, daß er nur spaßte, wie er es so gern tat.
    »Das beste wäre wohl, ich würde Sie versetzen.«
    Es gab zwei Abteilungen, bei denen ich noch nicht gedient hatte, das Glücksspiel- und das Finanz-Dezernat, und das zweite war für mich ein Alptraum, so wie die Gymnasialprüfung in Trigonometrie lange Zeit der Schreck meiner Semesterabschlüsse gewesen war.
    »Wie alt sind Sie eigentlich?«
    »Dreißig.«
    »Ein schönes Alter. Sehr schön. Ab heute übernimmt der kleine Lesueur Ihren Platz bei der Fremdenpolizei, und Sie halten sich Kommissar Guillaume zur Verfügung.«
    Er hatte es in nachlässigem Ton hingeworfen, als ob es etwas ganz Belangloses wäre, als ob er nicht wüßte, daß mein Herz

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