Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
Schweigen hüllt, hat man sie lange nicht mehr gesehen.
Die Kolleginnen haben keine Lust, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Auf unsere Fragen geben sie ausweichende Antworten.
Mit viel Mühe und Geduld gelingt es uns schließlich, einige ihrer Stammkunden ausfindig zu machen, Einzelgänger auch sie, Einsame, Männer ohne Alter, die kaum mehr als eine Erinnerung an verschwommene Umrisse zurücklassen.
War Geld das Tatmotiv? Kaum. Sie besaß ja so wenig.
War es einer jener ältlichen Typen, die bisweilen plötzlich Wahnvorstellungen haben, war es ein Auswärtiger, einer aus einem anderen Quartier, einer jener Verrückten, die in regelmäßigen Abständen die Krise nahen fühlen, die genau wissen, was sie tun werden, und mit unglaublichem Scharfsinn, mit einer Vorsicht, deren andere Kriminelle unfähig wären, ihre Maßnahmen treffen?
Man weiß nicht einmal, wie groß ihre Zahl ist. Es gibt sie in jeder Großstadt. Sie vollbringen ihre Tat und tauchen dann wieder für kürzere oder längere Zeit in der Anonymität unter.
Vielleicht sind es geachtete Männer, Familienväter, musterhafte Angestellte.
Niemand weiß, wie sie wirklich aussehen, und wenn wir zufällig einen erwischen, so ist es fast immer unmöglich, ihn eindeutig zu überführen.
Wir besitzen ziemlich genaue Statistiken über alle Arten von Verbrechen.
Außer über eines:
Den Giftmord.
Und alle Schätzungen wären unweigerlich falsch – zu hoch oder zu wenig hoch gegriffen.
Alle drei oder sechs Monate, in Paris oder in der Provinz, in der Provinz vor allem, in einem kleinen Städtchen oder Dorf will es der Zufall, daß ein Arzt einen Toten etwas gründlicher untersucht und sich über gewisse Erscheinungen wundert.
Ich sage Zufall, denn in der Regel handelt es sich um einen seiner Patienten, einen, den er lange Zeit krank gewußt hat. Er ist plötzlich gestorben, in seinem Bett, im Schoße seiner Familie, die alle üblichen Zeichen der Trauer bekundet.
Die Verwandten lieben es nicht, wenn von Autopsie gesprochen wird. Der Arzt wird sich erst dazu entschließen, wenn sein Verdacht sich erhärtet.
Oder ein anonymer Brief trifft bei der Polizei ein, mehrere Wochen nach der Beerdigung, mit ausführlichen Angaben, die zunächst unglaublich anmuten.
Ich will damit zeigen, welcher Voraussetzungen es bedarf, um ein Ermittlungsverfahren dieser Art in Gang zu setzen. Die amtlichen Formalitäten sind eine komplizierte Angelegenheit.
Sehr oft geht es um die Frau eines Bauern. Sie hat jahrelang auf den Tod ihres Mannes gewartet, um den Knecht heiraten zu können, und eines Tages ist ihr die Geduld gerissen.
Sie hat, wie es im Volksmund heißt, der Natur nachgeholfen.
Bisweilen, wenn auch seltener, ist es der Mann, der sich auf diese Weise einer kranken, zur toten Last im Haus gewordenen Gattin entledigt.
Man entdeckt sie durch Zufall. Doch in wie vielen anderen Fällen spielt nicht auch der Zufall mit? Wir wissen es nicht. Wir können es nur vermuten. Einige von uns hier am Quai wie auch im Haus an der Rue des Saussaies glauben, daß der Giftmord alle anderen Verbrechen, insbesondere die ungesühnten, an Häufigkeit übertrifft.
Die anderen sind, auch wenn sie die Romanschriftsteller und sogenannten Psychologen am meisten interessieren, doch eher selten und nehmen deshalb einen unbedeutenden Platz in unserem Arbeitspensum ein.
Nun weiß aber das Publikum gerade über diesen Teil unserer Tätigkeit am besten Bescheid. Es sind vor allem diese Fälle, von denen Simenon berichtet hat und wohl auch in Zukunft berichten wird.
Ich meine die Verbrechen, die unversehens in Milieus begangen werden, wo man sie am wenigsten erwartet hätte, und die wie das Ende eines langen und heimlichen Gärungsprozesses anmuten.
Irgendeine Straße, sauber, elegant, in Paris oder anderswo. Menschen, die ein komfortables Haus, ein Familienleben, einen ehrenwerten Beruf haben.
Wir haben ihre Schwelle noch nie überschreiten müssen. Oft ist es ein Kreis, wo unsereiner kaum Aufnahme fände, wo wir unangenehm auffallen und uns bestenfalls unsicher fühlen würden.
Doch jetzt ist jemand eines gewaltsamen Todes gestorben, und da sind wir nun, läuten an der Tür, finden verschlossene Gesichter, eine Familie, in der jeder einzelne sein eigenes Geheimnis zu hüten scheint.
Da kann man sich nicht mehr auf Erfahrungen verlassen, die man während langen Jahren auf der Straße, in Bahnhöfen und Hotels gesammelt hat. Auch mit dem instinktiven Respekt des kleinen Mannes vor der
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