Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
Autorität, der Polizei, ist hier nicht zu rechnen.
Niemand muß fürchten, an die Grenze zurückgestellt zu werden. Niemand wird in ein Büro am Quai mitgenommen und dort einem stundenlangen dramatischen Verhör unterzogen.
Hier haben wir die gleichen wohlanständigen Herrschaften vor uns, die uns zu einem anderen Zeitpunkt fragen würden:
»Ekelt es Sie nicht manchmal an?«
Sie ekeln uns an, ja. Nicht sofort. Nicht immer. Denn unsere Aufgabe ist langwierig und dornenvoll.
Es sei denn, der Telefonanruf eines Ministers, eines Abgeordneten, irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit versuche uns von der Fährte abzubringen.
Eine ganze Lackschicht von Respektabilität muß nach und nach zum Zersplittern gebracht werden. Mehr oder weniger abstoßende Familiengeheimnisse, die jeder wie auf Verabredung vor uns verbirgt, müssen unbekümmert um Proteste und Drohungen ans Tageslicht befördert werden.
Manchmal tischen uns fünf, sechs und mehr Personen die gleichen Lügen auf, wobei sie heimtückisch versuchen, die anderen Mitwisser hereinzulegen.
Simenon schildert mich gern als schwerfälligen, mürrischen, gehemmten Mann, der sein Gegenüber mißtrauisch mustert und seine Fragen wie ein bissiger Hund herausbellt.
So hat er mich tatsächlich gesehen, und zwar immer dann, wenn es um sogenannte Amateurverbrechen ging, die sich am Ende jedesmal als interessenbedingte Gewalttaten entpuppten.
Ich spreche nicht von finanziellen Interessen, nicht von Verbrechen, die einer verübt, weil er dringend Geld braucht wie im Fall der jungen Strolche, die alte Frauen umbringen.
Hinter diesen Fassaden geht es um kompliziertere, langfristigere und stets mit der Sorge um den guten Ruf gepaarte Interessen. Oft hat das Ganze vor Jahren begonnen, oft steckt ein ganzes Leben der Intrigen und unlauteren Machenschaften dahinter.
Wenn man die Herrschaften endlich soweit hat, daß sie gestehen, dann kommen die widerlichsten Dinge zum Vorschein, noch mehr aber, und eigentlich fast immer, die Angst vor den Folgen.
»Es ist doch unmöglich, nicht wahr, daß unsere Familie in den Schmutz gezogen wird? Es muß eine Lösung geben.«
Es gibt sie bisweilen, leider. Einige dieser Leute hätten geradewegs von meinem Büro in eine Zelle der ›Santé‹ wandern sollen und sind statt dessen von der Bildfläche verschwunden, weil es nun einmal Einflüsse gibt, gegen die ein Polizeiinspektor, ja selbst ein Kommissar nicht aufkommt.
»Ekelt es Sie nicht manchmal an?«
Ich habe nie Ekel empfunden, wenn ich als Beamter der Fremdenpolizei ganze Tage oder Nächte damit verbrachte, in schmierigen, überbelegten Hotels, wo sich hinter jeder Tür ein elendes Schicksal, ein Drama verbarg, Stockwerk um Stockwerk abzuklopfen.
Das Wort Ekel paßt auch nicht auf meine Reaktionen gegenüber den Tausenden von Berufsverbrechern, die durch meine Hände gegangen sind.
Sie spielten ihre Partie und verloren. Fast alle legten Wert darauf, als gute Verlierer zu gelten, und einige baten mich nach ihrer Verurteilung, sie im Gefängnis zu besuchen, wo wir wie Freunde miteinander plauderten.
Ich könnte sogar mehrere aufzählen, die mich anflehten, dabei zu sein, wenn sie hingerichtet würden. Ihr letzter Blick galt mir.
»Ich schaffe es, Sie werden sehen!«
Sie taten ihr Bestes. Sie schafften es nicht immer. Ich nahm ihre letzten Briefe mit und sorgte dafür, daß diese mit ein paar Worten aus meiner Feder ihre Bestimmung erreichten.
Wenn ich an solchen Tagen nach Hause kam, brauchte meine Frau nicht zu fragen. Sie mußte mich nur ansehen und wußte Bescheid.
Was jene andern betrifft, über die ich mich lieber nicht mehr auslasse, so erriet sie auch da sogleich, was hinter meiner üblen Laune steckte; sie erriet es an der Art, wie ich mich abends nach der Arbeit an den Tisch setzte und meinen Teller füllte, und sie drang nicht weiter in mich.
Was beweist, daß sie nie für den Straßen- und Brückenbau bestimmt war!
7
Von einem Morgen so sieghaft wie eine Husarentrompete und von einem jungen Mann, der nicht mehr mager, aber noch nicht ganz dick war
Noch kann ich den Geruch spüren, die Farbe der Sonne an jenem Morgen sehen. Es war im März. Der Frühling war vorzeitig angebrochen. Ich hatte mir schon angewöhnt, den Weg vom Boulevard Richard-Lenoir bis zum Quai des Orfèvres zu Fuß zu gehen, wann immer ich konnte.
An jenem Tag gab es draußen nichts für mich zu tun, statt dessen galt es drinnen die Meldeformulare der Fremdenpolizei zu ordnen, und zwar in
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