Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
Dauphine‹ getrunken und war mit dem Autobus nach Hause gefahren.
»Was wollen wir jetzt tun?«, fragte Madame Maigret, als der Tisch abgedeckt war.
»Wir gehen spazieren.«
Damit meinte er, dass sie gemütlich bis zu den großen Boulevards gehen und sich dann auf eine Restaurantterrasse setzen würden.
Die Sonne war untergegangen. Die Luft war frischer geworden, wenn auch noch von warmen Schwaden erfüllt, die vom Trottoir aufstiegen. Die Schiebetüren der Brasserie standen weit offen, und ein kümmerliches Orchester musizierte. Die meisten Gäste saßen wie die Maigrets schweigend an ihren runden Tischchen und beobachteten die Passanten. Die Dämmerung ließ die Gesichter immer mehr verschwinden, bis das aufflammende Lampenlicht sie wieder auftauchen ließ.
Wie die anderen Paare schlenderten sie ihrer Wohnung zu. Madame Maigret hatte sich bei ihrem Mann untergehakt.
Und dann begann wieder ein neuer Tag, an dem die Sonne ebenso strahlte wie am Tag zuvor.
Statt sich auf direktem Weg in sein Büro zu begeben, machte Maigret einen Umweg über den Quai de Jemmapes, fand das grüngestrichene Bistro in der Nähe der Saint-Martin-Schleuse mit dem Schild »Imbiss zu jeder Tageszeit« und stellte sich an die Theke.
»Einen Weißwein.«
Dann stellte er seine Frage. Der Mann aus der Auvergne, der ihn bediente, antwortete ohne Zögern.
»Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie spät es gewesen ist, aber da ist ein Anruf gekommen. Es wurde schon hell. Weder meine Frau noch ich sind aufgestanden, denn um diese Zeit konnte es nicht für uns sein. Ernestine ist dann runtergekommen, und ich habe gehört, wie sie lange gesprochen hat.«
In diesem Punkt wenigstens hatte sie nicht gelogen.
»Um welche Zeit hat Alfred am Abend zuvor das Haus verlassen?«
»Das kann so gegen elf gewesen sein. Vielleicht auch ein bisschen früher. Ich erinnere mich nur, dass er sein Fahrrad dabeihatte.«
Eine Tür führte vom Bistro direkt in den Hausflur, von dem man über eine Treppe in die oberen Etagen gelangte. Die Wände im Treppenhaus waren weiß gekalkt wie auf dem Land. Man hörte den Lärm eines Krans, der in der Nähe einen mit Sand beladenen Schleppkahn löschte.
Maigret klopfte an eine Tür, die sich halb öffnete und den Blick auf Ernestine freigab, die im Unterrock dastand und nur sagte:
»Ach, Sie sind’s!«
Dann griff sie eilends nach einem auf dem ungemachten Bett liegenden Morgenrock und zog ihn über.
Lächelte Maigret, weil er an die Ernestine von damals denken musste?
»Das tue ich mehr aus Barmherzigkeit, wissen Sie!«, erklärte sie. »Es ist kein schöner Anblick mehr.«
Das Fenster stand offen. Eine blutrote Geranie stand im Zimmer. Die Bettdecke war ebenfalls rot. Eine Tür stand offen, und Maigret sah in eine kleine Küche, aus der ein köstlicher Kaffeeduft strömte.
Er wusste nicht recht, was er eigentlich hier wollte.
»War gestern Abend keine postlagernde Sendung für Sie dabei?«
Sie erwiderte bekümmert:
»Nichts.«
»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass er nicht geschrieben hat?«
»Vielleicht ist er misstrauisch. Er muss erstaunt gewesen sein, dass die Zeitungen nichts bringen. Er sagt sich wahrscheinlich, dass ich überwacht werde. Ich wollte gerade zur Post gehen.«
In einer Ecke des Zimmers stand ein alter Koffer herum.
»Sind das seine Sachen?«
»Seine und auch meine. Wir besitzen beide nicht viel.«
Dann sah sie ihn mit vielsagender Miene an und fragte:
»Sie wollen doch sicher gern ein wenig herumstöbern? Aber ja. Ich habe Verständnis dafür. Es muss ja wohl sein. Sie werden bestimmte Werkzeuge finden, denn von denen hatte er einen zweiten Satz, ferner zwei alte Anzüge, einige Kleider und Wäsche.«
Während sie redete, leerte sie den Inhalt des Koffers auf dem Boden aus und zog die Schubladen einer Kommode auf. »Ich habe nachgedacht, denn mir ist aufgegangen, was Sie gestern sagten. Es kann gar nicht anders sein, als dass einer gelogen hat. Entweder die Leute da, die Mutter und ihr Sohn, oder Alfred oder ich. Sie haben keinen Grund, einem von uns mehr zu glauben als den anderen.«
»Hat Alfred keine Verwandten auf dem Land?«
»Er hat überhaupt keine Angehörigen mehr. Er hat nur seine Mutter gekannt, und die ist vor zwanzig Jahren gestorben.«
»Sie sind nie zusammen irgendwohin gefahren, an einen Ort außerhalb von Paris?«
»Nie weiter als Corbeil.«
In Corbeil dürfte er wohl kaum Zuflucht gesucht haben. Das lag zu nahe. Bei Maigret setzte sich allmählich die
Weitere Kostenlose Bücher