Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
Vermutung durch, dass Alfred auch nicht nach Belgien gefahren war.
»Gibt es keinen Ort, von dem er sagte, den würde er eines Tages gern besuchen?«
»Er sprach nur vom Land, ohne genaue Angaben zu machen. Für ihn schloss das alles ein.«
»Und Sie, sind Sie auf dem Land geboren?«
»Ja, in der Gegend von Nevers, in einem winzigen Nest, das Saint-Martin-des-Prés heißt.«
Sie holte aus einer Schublade eine Ansichtskarte, auf der man die Dorfkirche und einen ihr gegenüberliegenden Tümpel sah, der als Viehtränke diente.
»Haben Sie ihm die Karte jemals gezeigt?«
Sie begriff, worauf er hinauswollte. Mädchen wie Ernestine sind schnell von Begriff.
»Es würde mich wundern, wenn er dort wäre. Er war tatsächlich in der Nähe der Gare du Nord, als er mit mir telefonierte.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Ich habe die Kneipe ausfindig gemacht, gestern Abend … Sie liegt in der Rue de Maubeuge, neben einem Koffergeschäft. ›Bar du Levant‹ nennt sie sich. Der Wirt erinnerte sich an ihn, weil Alfred an diesem Tag sein erster Kunde war. Er hatte gerade die Kaffeemaschine angemacht, als Alfred hereinkam. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
Er sagte ungern nein, aber er hatte kurz vorher Weißwein getrunken.
»Macht nichts.«
Er hatte Mühe, in diesem Viertel ein Taxi zu finden, und ließ sich dann zur ›Bar du Levant‹ fahren.
»Ein kleiner Magerer, mit traurigen roten Augen, als hätte er geweint«, sagte man ihm.
Das musste Alfred Jussiaume sein, der oft rotgeränderte Lider hatte.
»Er hat lange am Telefon geredet, hat zwei Kaffee ohne Zucker getrunken und ist dann in Richtung Bahnhof davongegangen, wobei er sich ständig umsah, als hätte er Angst, verfolgt zu werden. Hat er was aus gefressen?«
Es war zehn Uhr, als Maigret endlich die Treppe zu den Büros der Kriminalpolizei hinaufstieg, auf der stets Staub aufwirbelte, der im Sonnenlicht wie Nebel aussah. Entgegen seiner Gewohnheit warf er keinen Blick durch die Glasscheiben des Wartezimmers und durchquerte das fast leere Büro der Inspektoren.
»Ist Janvier noch nicht da?«
»Er war gegen acht Uhr hier und ist wieder weggegangen. Er hat Ihnen eine Nachricht hingelegt.«
Auf dem Zettel stand:
Die Frau heißt Maria van Aerts. Sie ist 51 Jahre alt und stammt aus Sneek in Friesland. Ich fahre nach Neuilly, wo sie in einer Familienpension in der Rue de Longchamp gewohnt hat. Das Taxi habe ich noch nicht gefunden. Vacher kümmert sich um den Bahnhof.
Joseph, der Bürodiener, öffnete die Tür.
»Ich hatte Sie nicht hereinkommen sehen, Monsieur Maigret. Eine Dame wartet schon seit einer halben Stunde auf Sie.«
Er reichte ihm ein Formular, auf das die alte Madame Serre in kleiner, steiler Schrift ihren Namen geschrieben hatte.
»Soll ich sie hereinführen?«
Maigret zog sich das Jackett wieder an, das er gerade abgelegt hatte, öffnete das Fenster, stopfte seine Pfeife und setzte sich.
»Lassen Sie sie herein, ja.«
Er fragte sich, wie sie sich wohl außerhalb ihrer häuslichen Umgebung verhalten würde, aber zu seiner Überraschung passte alles harmonisch zusammen. Sie war nicht schwarz gekleidet wie am Tag zuvor, sondern trug ein weißes Kleid mit dunklem Muster. Ihr Hut war keineswegs lächerlich. Sie trat ungezwungen herein.
»Ein bisschen haben Sie doch mit meinem Besuch gerechnet, nicht wahr, Herr Kommissar?«
Er hatte nicht damit gerechnet, vermied es jedoch, ihr das zu sagen.
»Nehmen Sie Platz, Madame.«
»Danke.«
»Stört Sie auch der Rauch nicht?«
»Mein Sohn raucht den ganzen Tag Zigarren. Ich war gestern derart durcheinander wegen der Art und Weise, mit der er Sie empfangen hat. Ich habe versucht, Ihnen einen Wink zu geben, nicht in ihn zu dringen, denn ich weiß, wie er ist.«
Sie war überhaupt nicht nervös, ließ sich beim Sprechen Zeit und bedachte Maigret mehrmals mit einem komplizenhaften Lächeln.
»Ich glaube, dass ich schuld bin, dass ich ihn falsch erzogen habe. Sehen Sie, ich habe nur dieses eine Kind, und beim Tod meines Mannes war er erst siebzehn. Ich habe ihn verwöhnt. Guillaume war der einzige Mann im Haus. Wenn Sie Kinder haben …«
Maigret musterte sie und versuchte, sich über sie eine Meinung zu bilden, aber es gelang ihm nicht. Daher fragte er:
»Sind Sie in Paris geboren?«
»In dem Haus, das Sie gestern betreten haben.«
Es war ein seltener Zufall, im Verlauf einer Untersuchung zwei Personen zu finden, die in Paris zur Welt gekommen waren. Fast immer stammten die Leute, mit
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