Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
um eine Gefälligkeit bitten«, sagte sie in freundlichem Ton. »Wenn ich gegangen bin, dann versuchen Sie bitte für einen Augenblick, sich in meine Lage zu versetzen, und vergessen Sie einmal, dass Sie sich Ihr Leben lang mit Verbrechen beschäftigt haben. Stellen Sie sich vor, dass Sie selbst es sind, dem man plötzlich die Fragen stellt, die Sie mir gestellt haben, dass Sie in Verdacht geraten sind, jemanden kaltblütig umgebracht zu haben.«
Das war alles. Sie fügte nur noch hinzu: »Bis heute Nachmittag, Monsieur Maigret!«
Als sich die Tür geschlossen hatte, blieb er eine ganze Weile reglos vor dem Türrahmen stehen. Dann ging er zum Fenster und blickte hinaus und sah gerade noch die alte Dame im gleißenden Sonnenlicht in Richtung Pont Saint-Michel davontrippeln.
Er nahm den Telefonhörer ab.
»Geben Sie mir das Polizeirevier in Neuilly!«
Er ließ sich nicht mit dem Wachtmeister verbinden, sondern mit einem Inspektor, den er kannte.
»Vanneau? Maigret hier. Danke, mir geht’s gut. Hör zu. Es geht um eine heikle Angelegenheit. Du springst jetzt in einen Wagen und fährst in die Rue de la Ferme 43 a.«
»Zu dem Zahnarzt? Janvier war gestern Abend hier und hat mir davon erzählt. Es handelt sich um eine Holländerin, nicht wahr?«
»Das ist jetzt egal. Die Sache eilt. Mit dem Kerl ist nicht gut Kirschen essen, und ich will vorerst keinen Haftbefehl beantragen. Wir müssen schnell handeln, bevor seine Mutter zurückkommt.«
»Ist sie noch weit weg?«
»Am Pont Saint-Michel. Ich vermute, sie wird ein Taxi nehmen.«
»Was mache ich mit dem Mann?«
»Du nimmst ihn unter irgendeinem Vorwand mit. Erzähl ihm, was du willst, dass du ihn als Zeugen für eine Aussage brauchst …«
»Und dann?«
»… bin ich schon da. Ich gehe runter und springe in den ersten Wagen.«
»Und wenn der Zahnarzt nicht zu Hause ist?«
»Dann passt du ihn draußen ab und greifst ihn dir, bevor er das Haus betritt.«
»Nicht gerade gesetzlich, was?«
»Überhaupt nicht.«
Als Vanneau einhängen wollte, fügte Maigret hinzu:
»Nimm jemanden mit und postier ihn gegenüber den alten Ställen, die jetzt Garagen sind. Sie liegen in derselben Straße, und der Zahnarzt hat eine von ihnen gemietet.«
»Verstanden.«
Eine Sekunde später eilte Maigret die Treppe hinunter und nahm in einem der Polizeiautos Platz, die im Hof parkten. Als der Wagen zum Pont-Neuf abbog, hatte er den Eindruck, Ernestines grünen Hut zu sehen. Er war sich indessen nicht sicher und wollte lieber keine Zeit verlieren. Insgeheim konnte er sich sogar eines Gefühls des Grolls gegen die Bohnenstange nicht erwehren.
Als der Pont-Neuf hinter ihm lag, tat es ihm leid, aber es war zu spät.
Es war für sie nicht mehr zu ändern. Sie würde aber bestimmt auf ihn warten.
4
Es stellt sich heraus, dass kein Verhör dem anderen gleicht, und Eugénies Ansichten hindern sie nicht daran, eine kategorische Erklärung abzugehen
Das Polizeirevier lag im Erdgeschoss des Rathauses, eines hässlichen quadratischen Gebäudes, das von einem mit dürren Bäumen bestandenen Wall umgeben war und dessen Trikolore schlaff herabhing. Maigret hätte von außen her direkt die Büros der Inspektoren betreten können. Um aber zu vermeiden, sofort Guillaume Serre Auge in Auge gegenüberzustehen, nahm er den Umweg über die zugigen Korridore, wo er sich prompt verlief.
Auch hier herrschte sommerliche Flaute. Türen und Fenster standen offen, Papiere flatterten auf den Schreibtischen der leeren Räume herum, während in anderen Zimmern Beamte in Hemdsärmeln einander von ihren Ferienerlebnissen berichteten und einige wenige Steuerzahler entmutigt auf der Suche nach einem Stempel oder einer Unterschrift herumirrten.
Maigret stieß endlich auf einen Polizisten, der ihn erkannte.
»Wo geht’s hier zu Inspektor Vanneau?«
»Zweiter Flur links und dann die dritte Tür.«
»Würden Sie ihn bitte herholen? Er muss jemanden bei sich im Büro haben. Nennen Sie aber meinen Namen nicht laut!«
Vanneau kam einige Augenblicke später zu ihm heraus.
»Ist er da?«
»Ja.«
»Wie ist es gelaufen?«
»Na, so einigermaßen. Ich hatte vor dem Weggehen noch daran gedacht, eine Vorladung einzustecken. Eine Hausgehilfin machte mir auf. Ich sagte, ich wolle den Hausherrn sprechen. Man hat mich einige Minuten im Flur warten lassen, dann ist der Kerl die Treppe heruntergekommen, und ich habe ihm das Papier gezeigt. Er hat es gelesen und mich stumm angestarrt.
›Wenn Sie mitkommen wollen, ich
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