Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
mit den anderen Musikern zu reden, und ist dann hinausgestürzt.«
»Um welche Zeit ist er zurückgekommen?«
Diesmal war es wieder der Mann, der antwortete.
»Es war kurz vor elf.«
»Wirkte er sehr erregt?«
»Mir ist nichts aufgefallen. Er hat sich wegen seines Ausbleibens entschuldigt und ist zu seinem Platz zurückgekehrt. Er hat bis ein Uhr morgens gespielt. Dann haben wir Schluß gemacht, und er hat wie immer noch ein Glas mit uns getrunken. Wenn er gewußt hätte, daß Lulu tot war, hätte er das nicht fertiggebracht. Er war verrückt nach ihr. Und das schon seit langem. Wie oft habe ich ihm gesagt: ›Mein lieber Pierrot, du machst einen Fehler. Man muß die Frauen dazu benutzen, wozu sie taugen …‹«
»Danke sehr!« bemerkte seine Begleiterin trocken.
»Das ist nicht dasselbe.«
»Und Lulu? War sie nicht verliebt in ihn?«
»Doch, natürlich.«
»Hatte sie jemand anderen?«
»Die Wohnung im Etoile-Viertel hat ihr bestimmt kein Saxophonspieler bezahlt.«
»Wissen Sie, wer es ist?«
»Sie hat es mir nie gesagt, Pierrot auch nicht. Alles, was ich weiß, ist, daß sich nach der Operation ihr ganzes Leben verändert hat.«
»Nach welcher Operation?«
»Vor zwei Jahren ist sie schwer krank gewesen. Sie wohnte damals noch hier in der Gegend.«
»Ging sie auf den Strich?«
Der Mann zuckte die Schultern.
»Was tun sie hier schon anderes?«
»Fahren Sie fort.«
»Man hat sie ins Krankenhaus gebracht. Pierrot hat sie besucht, und als er zurückkam, sagte er, es bestehe keine Hoffnung mehr. Eine Gehirnsache, ich weiß nicht genau. Zwei Tage darauf ist sie dann in ein anderes Krankenhaus am linken Seineufer transportiert worden. Sie haben sie operiert, und ein paar Wochen später war sie wiederhergestellt. Sie ist aber nicht mehr hierher zurückgekommen, höchstens ab und zu auf Besuch.«
»Ist sie gleich in die Avenue Carnot gezogen?«
Der Wirt wandte sich an die Frau:
»Kannst du dich daran erinnern?«
»Ja. Zuerst hatte sie eine Wohnung in der Rue La Fayette.«
Das war alles, was Janvier herausgefunden hatte, als er gegen drei Uhr zum Quai des Orfèvres zurückkehrte. Maigret war immer noch in seinem Büro, in Hemdsärmeln, weil der Raum überheizt war; die Luft war blau von Pfeifenrauch.
»Setz dich. Erzähle.«
Janvier berichtete, was er erfahren hatte.
»Ich habe Anweisung gegeben, die Bahnhöfe zu überwachen«, sagte der Kommissar, als Janvier mit seinem Bericht zu Ende war. »Bisher hat Pierrot noch nicht versucht, einen Zug zu nehmen.«
Er zeigte ihm eine Karteikarte des Erkennungsdienstes mit En-face- und Profilaufnahme eines Mannes, der bei weitem jünger als dreißig zu sein schien.
»Ist er das?«
»Ja. Mit zwanzig ist er zum erstenmal verhaftet worden, wegen Körperverletzung bei einer Prügelei in einer Bar in der Rue des Flandres. Und dann, eineinhalb Jahre später, wurde er verdächtigt, an einem Diebstahl beteiligt gewesen zu sein, den das Mädchen, mit dem er zusammenlebte, begangen hatte. Man konnte ihm aber nichts beweisen. Mit vierundzwanzig wurde er ein letztes Mal wegen Zuhälterei verhaftet. Er ging damals keiner geregelten Beschäftigung nach und ließ sich von einer Prostituierten aushalten, einer gewissen Ernestine. Seitdem nichts. Ich habe seine Personenbeschreibung an sämtliche Polizeidienststellen schicken lassen. Überwacht Janin noch das Hotel?«
»Ja. Ich hielt es für vorsichtiger.«
»Du hast recht. So bald wird er sich zwar dort nicht blicken lassen, aber wir können kein Risiko eingehen. Nur, ich brauche Janin. Ich werde ihn vom kleinen Lapointe ablösen lassen. Es sollte mich eigentlich wundern, wenn Pierrot jetzt versuchen würde, Paris zu verlassen. Er hat sein ganzes Leben in dem Quartier da verbracht, er kennt es wie seine Westentasche und weiß, wo er am leichtesten untertauchen kann. Janin kennt sich dort besser aus als wir. Ruf Lapointe herein.«
Lapointe hörte sich die Anweisungen seines Vorgesetzten an und stürzte mit solchem Eifer hinaus, als hänge die ganze Untersuchung von ihm allein ab.
»Die Akte Louise Filon habe ich auch hier.«
»Zwischen ihrem fünfzehnten und ihrem vierundzwanzigsten Lebensjahr ist sie über hundertmal von der Straße aufgelesen und in Polizeigewahrsam gebracht worden. Man untersuchte sie und behielt sie zur Beobachtung dort. Nach ein paar Tagen wurde sie meistens wieder auf freien Fuß gesetzt.«
»Das ist alles«, seufzte Maigret, während er seine Pfeife am Absatz ausklopfte. »Oder vielmehr – es
Weitere Kostenlose Bücher