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Maigret - 43 - Hier irrt Maigret

Maigret - 43 - Hier irrt Maigret

Titel: Maigret - 43 - Hier irrt Maigret Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gesehen, hatte ihn aber noch nie persönlich kennengelernt.
    »Er muß an die Sechzig sein, nicht?«
    »Er ist zweiundsechzig, sieht aber jünger aus. Bei einem Mann von seinem Schlag spielt das Alter übrigens keine Rolle.«
    Maigret erinnerte sich undeutlich an einen mächtigen Kopf mit kräftiger Nase und ausgeprägtem Kinn, aber bereits schlaffen Wangen und Säcken unter den Augen. Es amüsierte ihn, daß die Frau so begeistert von ihm sprach wie eine Schauspielschülerin von ihrem Lehrer.
    »Wissen Sie, ob er sie gestern noch gesehen hat, bevor er ins Krankenhaus fuhr?«
    »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß es erst acht Uhr war und daß der junge Mann später gekommen ist.«
    Es kam ihr nur auf eins an: Gouin aus der Sache herauszuhalten.
    »Und nach seiner Rückkehr?«
    Sie suchte offensichtlich nach der besten Antwort und sagte schließlich: »Bestimmt nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Weil wenige Minuten nachdem er hinaufgegangen war, seine Schwägerin die Treppe herunterkam.«
    »Sie glauben also, daß er seiner Schwägerin begegnet ist?«
    »Sie wird gewartet haben, bis er zurück war.«
    »Sie verteidigen ihn mit viel Wärme, Madame Cornet.«
    »Ich sage nur die Wahrheit.«
    »Da Madame Gouin im Bilde ist, habe ich keinen Grund, sie nicht aufzusuchen.«
    »Finden Sie das taktvoll?«
    »Wahrscheinlich nicht. Sie haben recht.«
    Trotzdem wandte er sich zur Tür.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Hinauf. Ich lasse die Tür halb offen, und wenn der Professor nach Hause kommt, bitte ich ihn um eine kurze Unterredung.«
    »Wenn Sie darauf bestehen …«
    »Danke.«
    Sie war ihm sympathisch. Nachdem er die Türe geschlossen hatte, drehte er sich noch einmal um und sah durch die Glasscheibe. Sie hatte sich sofort erhoben, und als sie ihn bemerkte, schien sie zu bereuen, daß sie es getan hatte. Sie wandte sich der Küche zu, als hätte sie dort etwas Dringendes zu erledigen, aber Maigret war überzeugt, daß sie nicht in die Küche gehen wollte, sondern zu dem Tischchen neben dem Fenster, auf dem das Telefon stand.

3
    »Wo hast du sie gefunden?«, fragte Maigret Lucas. »Im Küchenschrank, auf dem obersten Brett«, berichtete Lucas.
    Es war eine Schuhschachtel aus weißem Karton. Die rote Schnur, mit der sie verschnürt gewesen war, als man sie entdeckt hatte, hatte Lucas auf das Tischchen gelegt.
    Der Inhalt der Schachtel erinnerte Maigret an andere »Schätze« dieser Art, wie er sie oft auf dem Lande oder bei armen Leuten gesehen hatte: Trauscheine, vergilbte Briefe, manchmal auch einen Pfandschein. Man bewahrte sie nicht nur in Schachteln, sondern auch in der Suppenterrine des guten Geschirrs oder in der Kompottschüssel auf.
    Louise Filons »Schatz« unterschied sich kaum von diesen anderen. Ein Trauschein war zwar nicht darunter, dafür aber ein vom Gemeindeamt des 18. Arrondissements ausgestellter Geburtsschein, aus dem zu ersehen war, daß Louise Marie Joséphine in Paris als Tochter des Darmsaitenmachers Louis Filon, wohnhaft in der Rue de Cambrai, in der Nähe der Schlachthöfe von La Villette, sowie der Wäscherin Philippine Le Flem geboren wurde.
    Es war auch ein Foto da, das vermutlich diese Philippine darstellte und von einem Fotografen des Wohnviertels aufgenommen worden war. Die traditionelle Kulisse stellte einen Park mit Balustrade im Vordergrund dar. Die Frau, die um diese Zeit etwa dreißig Jahre alt gewesen sein mußte, hatte es nicht fertiggebracht, auf Befehl des Fotografen zu lächeln, und sah starr vor sich hin. Zweifellos hatte sie außer Louise noch andere Kinder zur Welt gebracht, denn ihr Körper war unförmig und der Busen schlaff.
    Lucas hatte sich wieder in den Lehnstuhl gesetzt, aus dem er sich erhoben hatte, um Maigret die Tür zu öffnen. Bei seinem Eintritt hatte dieser ein Lächeln nicht unterdrücken können, als er neben dem Aschenbecher, in dem eine brennende Zigarette lag, einen von Lulus Groschenromanen aufgeschlagen liegen sah, zu dem Lucas wohl aus Langeweile gegriffen und den er fast zur Hälfte gelesen hatte.
    »Sie ist seit sieben Jahren tot«, sagte Lucas, indem er auf das Foto zeigte.
    Er hielt seinem Chef einen Zeitungsausschnitt hin: Es war die Rubrik »Todesfälle«, in der unter den an diesem Tage Verstorbenen auch die besagte Philippine Filon, geborene Le Flem, genannt wurde.
    Die beiden Männer hatten die Tür einen Spalt offengelassen, und Maigret horchte auf das Geräusch des Fahrstuhls. Bisher hatten sie ihn erst einmal gehört, und er hatte im zweiten Stock

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