Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
dass die Zeugen im Vorbeigehen einen Blick auf sie werfen konnten.«
»Haben sie beide erkannt?«
»Ja. Vor allem natürlich den, der seine Maske verloren hatte.«
»Hol mal den Jüngeren rein.«
Er hatte zu lange Haare, Pickel im Gesicht und sah ungesund und ungepflegt aus.
»Nimm ihm die Handschellen ab …«
Der Junge warf ihm einen misstrauischen Blick zu und schien fest entschlossen, nicht in die Falle zu gehen, die man ihm sicher stellen würde.
»Lass mich mit ihm allein.«
In solchen Fällen war es Maigret lieber, wenn er mit dem Verdächtigen zuerst unter vier Augen sprechen konnte, denn später war immer noch Zeit, seine Aussage zu Protokoll zu nehmen und von ihm unterschreiben zu lassen.
Er zog einige Male kurz an seiner Pfeife.
»Setz dich.«
Er schob ihm ein Päckchen Zigaretten hin.
»Rauchst du?«
Die Hand zitterte. Die Nägel an den langen, klobigen Fingern waren abgekaut wie bei einem Kind.
»Hast du keinen Vater mehr?«
»Ich war es nicht.«
»Ich frage dich nicht, ob du das Ding gedreht hast oder nicht. Ich frage dich, ob du noch einen Vater hast.«
»Er ist gestorben.«
»Woran?«
»Im Sanatorium.«
»Sorgt jetzt deine Mutter für dich?«
»Ich arbeite selbst auch.«
»Was?«
»Als Metallschleifer.«
Das kostete Zeit. Maigret wusste jedoch aus Erfahrung, dass es besser war, langsam vorzugehen.
»Wo hast du dir die automatische Pistole besorgt?«
»Ich habe keine Pistole.«
»Willst du, dass ich sofort die Zeugen hereinrufe, die draußen warten?«
»Das sind Lügner.«
In dem Moment klingelte bereits das Telefon. Es war Lapointe.
»Geneviève Lavancher hat ausgesagt, Chef. Man hat ihr fast die gleichen Fragen gestellt wie ihrem Boss, nur eine mehr. Der Vorsitzende hat sie nämlich gefragt, ob ihr am fünfundzwanzigsten Februar am Verhalten ihrer Gäste nichts aufgefallen ist, und sie hat geantwortet, dass sie mit Verwunderung festgestellt hat, dass das Bett unbenutzt war.«
»Sagen inzwischen die vorgeladenen Zeugen aus?«
»Ja. Das geht jetzt sehr schnell. Es lohnt kaum, sie anzuhören.«
Es dauerte vierzig Minuten, bis der Widerstand des Jungen gebrochen war und er schließlich in Schluchzen ausbrach.
Er hatte die Pistole in der Hand gehalten. Sie waren nicht zu zweit, sondern zu dritt gewesen, denn am Steuer eines gestohlenen Wagens wartete ein Komplize, anscheinend derjenige, der die Idee zu diesem Raubüberfall gehabt hatte und der, als er Hilferufe hörte, abgehauen war, ohne auf die anderen zu warten.
Trotzdem weigerte sich der Bursche, der Virieu hieß, den Namen des Komplizen zu verraten.
»Ist er älter als du?«
»Ja. Er ist dreiundzwanzig und schon verheiratet.«
»Hat er Erfahrung?«
»Er behauptet es.«
»Ich vernehme dich gleich weiter, wenn ich deinen Komplizen verhört habe.«
Virieu wurde abgeführt. Man brachte Giraucourt herein, seinen Kumpel, dem ebenfalls die Handschellen abgenommen wurden, und als die beiden Jungen aneinander vorbeigingen, konnten sie einen kurzen Blick wechseln.
»Hat er ausgepackt?«
»Hast du erwartet, dass er schweigt?«
Routine. Der Raubüberfall war gescheitert. Es hatte keinen Toten und keinen Verletzten gegeben, es war nicht einmal etwas kaputtgegangen, bis auf eine Fensterscheibe.
»Wer hat die Idee mit den Masken gehabt?«
Das war übrigens kein origineller Einfall. Profis hatten in Nizza wenige Monate zuvor Karnevalsmasken benutzt, als sie ein Postauto überfielen.
»Du warst nicht bewaffnet?«
»Nein.«
»Du warst es aber, der in dem Augenblick, als die Angestellte zum Fenster ging, gerufen hat: ›Schieß doch, Idiot …‹«
»Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Ich habe die Kontrolle verloren …«
»Doch dein kleiner Kumpel hat gehorcht und auf den Abzug gedrückt.«
»Er hat nicht geschossen.«
»Das heißt, der Schuss ist zum Glück nicht losgegangen. Vielleicht war die Waffe nicht geladen? Vielleicht funktionierte sie nicht?«
Die Bankangestellten sowie eine Kundin hielten die Hände hoch.
Es war zehn Uhr morgens.
»Du hast doch, als du reinkamst, gerufen: ›Hände hoch, alle an die Wand! Dies ist ein Überfall!‹ Dann hast du anscheinend hinzugefügt: ›Es ist ernst!‹«
»Ich habe das gesagt, weil eine Frau anfing zu lachen.«
Eine fünfundvierzigjährige Angestellte, die jetzt mit den anderen in dem Glaskäfig wartete, hatte einen Briefbeschwerer genommen, ihn gegen die Scheibe geschleudert und um Hilfe gerufen.
»Bist du vorbestraft?«
»Einmal.«
»Weswegen?«
»Weil
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