Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
gehört, die sich Kinder wünschen … Oder täusche ich mich da?«
»Nein.«
»Hatte er gehofft, mit Ihnen Kinder zu bekommen?«
»Am Anfang, ja.«
Maigret hatte gespürt, dass sie zögerte, irgendwie verwirrt war, und er hatte weitergebohrt.
»Können Sie keine kriegen?«
»Nein.«
»Hat er das gewusst, als er Sie geheiratet hat?«
»Nein. Wir hatten nie darüber gesprochen.«
»Wann hat er es erfahren?«
»Nach einigen Monaten. Da er sich ständig Hoffnungen gemacht und mich jeden Monat danach gefragt hat, habe ich ihm lieber die Wahrheit gesagt … Nicht die ganze Wahrheit … Aber das Wichtigste …«
»Und das wäre?«
»Dass ich krank war, bevor ich ihn kennengelernt habe, und dass ich mich einer Operation unterziehen musste …«
Das war sieben Jahre her. Obwohl Meurant sich eine Familie gewünscht hatte, waren sie zu zweit geblieben.
Er hatte sich selbständig gemacht. Dann hatte er auf Drängen seiner Frau versucht, in einem fremden Beruf Fuß zu fassen. Wie vorauszusehen war, endete dieser Versuch im Desaster. Trotz alledem hatte er geduldig ein kleines Bilderrahmengeschäft aufgebaut.
Das alles ergab in Maigrets Augen ein stimmiges Bild, und er maß dieser Kinderfrage plötzlich zu Recht oder Unrecht eine ziemlich große Bedeutung bei.
Er ging nicht so weit zu behaupten, Meurant sei unschuldig.
Er hatte oft genug erlebt, dass unauffällige, ruhige und äußerlich sanft wirkende Männer wie Meurant gewalttätig wurden.
Und fast immer passierte das, weil sie aus irgendeinem Grunde im tiefsten Inneren verletzt waren.
Meurant wäre durchaus in der Lage, ein Verbrechen aus Eifersucht zu begehen. Vielleicht wäre er auch auf einen Freund losgegangen, wenn der ihn gedemütigt hätte.
Vielleicht sogar auf seine Tante, wenn die ihm das Geld verweigert hätte, das er so dringend brauchte …
Alles war möglich, nur eines nicht, so dachte Maigret, nämlich dass ein Mann, der so gern ein eigenes Kind gehabt hätte, ein kleines vierjähriges Mädchen qualvoll erstickt.
»Hallo, Chef …«
»Ja?«
»Er ist fertig. Das Gericht und die Geschworenen ziehen sich zurück. Einige meinen, dass es lange dauern wird. Andere sind dagegen überzeugt, dass die Würfel schon gefallen sind.«
»Wie verhält sich Meurant?«
»Den ganzen Nachmittag hätte man meinen können, er hätte mit all dem nichts zu tun. Er machte ein finsteres Gesicht und wirkte abwesend. Als sein Verteidiger zwei- oder dreimal das Wort an ihn richtete, hat er nur die Achseln gezuckt. Und als ihn dann der Vorsitzende gefragt hat, ob er eine Erklärung abzugeben habe, sah er so aus, als ob er die Frage nicht verstanden hätte. Der Richter musste sie noch einmal wiederholen. Meurant hat nur den Kopf geschüttelt.«
»Hat er manchmal zu seiner Frau rübergeschaut?«
»Kein einziges Mal.«
»Ich danke dir. Hör mal: Hast du Bonfils im Saal entdeckt?«
»Ja. Er ist ständig in der Nähe von Ginette Meurant.«
»Sag ihm, er soll sie am Ausgang nicht aus den Augen lassen. Um sicherzugehen, dass sie ihm nicht entwischt, soll ihm Jussieu helfen. Einer der beiden soll dafür sorgen, dass ein Auto zur Verfügung steht.«
»Verstanden. Ich gebe Ihre Anweisungen weiter.«
»Sie wird vermutlich nach Hause zurückkehren, deshalb muss ständig jemand am Boulevard de Charonne sein.«
»Und wenn …«
»Wenn Meurant einen Freispruch erhält, soll sich Janvier um ihn kümmern. Ich schicke ihn dorthin.«
»Sie glauben, dass …«
»Ich weiß es selber nicht, Kleiner.«
Er wusste es tatsächlich nicht. Er hatte sein Bestes getan. Er suchte die Wahrheit, aber nichts bewies, dass er sie gefunden hatte, vielleicht nicht einmal Teile davon.
Die Ermittlung hatte im März stattgefunden, dann Anfang April, als die Sonne über Paris hervorbrach, helle Wolken über die Stadt hinzogen und manchmal unverhofft Regenschauer am frischen Morgen fielen.
Der andere Teil des Verfahrens fand in einem verfrühten, scheußlichen Herbst statt, bei Regen, unter einem niedrigen, verhangenen Himmel und bei nassglänzenden Gehwegen.
Um die Zeit totzuschlagen, unterschrieb Maigret einige Dokumente, lief im Büro der Inspektoren auf und ab und gab Janvier Instruktionen.
»Sieh zu, dass du mich auf dem Laufenden hältst, selbst mitten in der Nacht.«
Obwohl er nach außen hin ruhig wirkte, war er nervös und verspürte eine plötzliche Unruhe, vielleicht weil er sich Vorwürfe machte, große Verantwortung auf sich genommen zu haben.
Als das Telefon in seinem Büro
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