Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
also nicht von mildernden Umständen die Rede sein, sondern allein von der Todesstrafe.
Es ist an den Geschworenen, nach bestem Wissen und Gewissen zu sagen, ob sie Gaston Meurant in diesem Mordfall für schuldig halten.«
Maigret, der mit der Untersuchung seiner Amateurgangster fertig war, öffnete nur höchst ungern seine Tür, um sich den Journalisten zu stellen.
»Haben sie gestanden?«
Er nickte.
»Machen Sie bitte nicht zu viel Aufheben um die Sache, meine Herren. Bauschen Sie nichts auf! Erwecken Sie bei möglichen Nachahmern bloß nicht den Eindruck, dass diese Jungs eine Heldentat vollbracht haben. Es sind arme Kerle, glauben Sie mir.«
Er beantwortete ihre Fragen nur kurz, er fühlte sich müde und abgespannt. In Gedanken war er zum Teil im Gerichtssaal, wo jetzt der junge Verteidiger das Wort hatte.
Er war nahe daran, die gläserne Verbindungstür zum Gerichtsgebäude zu öffnen und zu Lapointe zu gehen. Aber wozu? Er konnte sich das Plädoyer gut vorstellen, das wie ein Groschenroman beginnen würde.
Pierre Duché würde sicher so weit wie möglich die Vergangenheit aufrollen.
Eine arme, kinderreiche Familie in Le Havre, deren Sprösslinge sehr früh auf eigenen Füßen stehen mussten. Mit fünfzehn oder sechzehn Jahren traten die Mädchen eine Stellung an, das heißt, sie gingen nach Paris, um sich dort nach einer Anstellung umzusehen. Hatten die Eltern genügend Zeit und finanzielle Möglichkeiten, um für ihre Kinder zu sorgen? Einmal im Monat schrieben sie in Schönschrift, aber mit Rechtschreibfehlern einen Brief, dem sie manchmal einen kleinen Geldschein beilegten.
Zwei Schwestern waren so von zu Hause fortgegangen, zuerst Léontine, die als Verkäuferin in einem Kaufhaus begann und kurz darauf geheiratet hat.
Hélène, die jüngere, hatte in einem Milchgeschäft gearbeitet und dann in einem Kurzwarenladen in der Rue d’Hauteville.
Léontines Mann war in der Zwischenzeit gestorben. Und Hélène hatte schon früh die Tanzlokale des Viertels entdeckt.
Standen sie immer noch in Kontakt? Dafür gab es keine Anhaltspunkte. Nachdem ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hatte Léontine Faverges in den Brasserien der Rue Royale und in den Stundenhotels rund um die Madeleine verkehrt, bevor sie sich in der Rue Manuel selbständig gemacht hatte.
Ihre Schwester Hélène hatte zwei Kinder von unbekannten Vätern, die sie drei Jahre lang unter eher schlechten Bedingungen großzog. Dann hatte man sie eines Abends wegen einer Operation in ein Krankenhaus gebracht, aus dem sie nie wieder herausgekommen war.
»Meine Herren Geschworenen, mein Mandant, der mit Hilfe der öffentlichen Fürsorge aufgewachsen ist …«
Er hatte recht, und Maigret hätte dem Verteidiger dazu interessante Statistiken liefern können, den Prozentsatz der Zöglinge zum Beispiel, die auf die schiefe Bahn kamen und die man später auf der Anklagebank wiedertraf.
Das waren die Rebellen, die die Gesellschaft für ihre demütigende Situation verantwortlich machten.
Doch entgegen der öffentlichen Meinung – und die Geschworenen dachten sicher genauso – stellten sie eine Minderheit dar.
Natürlich sind auch die anderen von ihrer schwierigen Kindheit geprägt. Sie leiden ihr ganzes Leben lang unter Minderwertigkeitsgefühlen. Aber sie reagieren darauf eben, indem sie sich selbst beweisen möchten, dass sie etwas zählen.
Sie haben einen Beruf erlernt, und sie bemühen sich sehr, um ein Meister ihres Fachs zu werden.
Sie sind stolz darauf, eine Familie zu gründen, eine wirkliche, ordentliche Familie, mit Kindern, die man sonntags an der Hand spazieren führt.
Kann ihr Einsatz schönere Früchte tragen als die Gründung eines eigenen Unternehmens, in dem sie fortan ihr eigener Herr sind?
Hatte Pierre Duché daran gedacht? Trug er das jetzt im Gerichtssaal vor, wo die Gesichter vor Müdigkeit immer angespannter wirkten?
Maigret hatte heute Morgen während des langen Verhörs etwas vergessen, und er ärgerte sich jetzt darüber. Natürlich waren sämtliche Fragen und Antworten in der Akte festgehalten. Aber es ging nun nur noch um ein kleines, unwichtiges Detail.
Als Ginette zum dritten Mal in sein Büro am Quai des Orfèvres gekommen war, hatte der Kommissar sie fast beiläufig gefragt:
»Haben Sie nie ein Kind gehabt?«
Mit dieser Frage hatte sie offenbar nicht gerechnet, denn sie schien überrascht.
»Warum fragen Sie mich das?«
»Ich weiß es nicht … Ich habe den Eindruck, dass Ihr Mann zu den Leuten
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