Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
ist sogar ein Wunder, dass ich dieses Privileg überhaupt noch habe!
Der Untersuchungsrichter, nach mir, hat es praktisch nicht mehr, und er sieht die Leute nur noch losgelöst von ihrem ganz persönlichen Leben und in der neutralen Atmosphäre seines Arbeitszimmers. Was er dort vor sich hat, sind im Grunde Menschen, die bereits in Schubladen einsortiert sind.
Er hat seinerseits auch wieder nur begrenzt Zeit; wird von der Presse, von der öffentlichen Meinung bedrängt, ist in seinem Handlungsspielraum durch jede Menge Vorschriften eingeengt, wird von Verwaltungsformalitäten, die ihm die meiste Zeit rauben, überschwemmt, wie soll er da noch etwas entdecken?
Wenn lauter blutleere Figuren aus seiner Amtsstube herauskommen, was bleibt dann dem Schwurgericht, und worauf sollen die Geschworenen ihre Entscheidung über das Schicksal eines einzelnen oder mehrerer Menschen gründen?
Es geht nicht mehr um Monate oder Wochen, nicht einmal um Tage. Die Zahl der Zeugen ist auf ein Minimum beschränkt, genau wie die Anzahl der Fragen, die gestellt werden. Sie wiederholen vor dem Gericht eine Zusammenfassung, einen digest, wie sich das heutzutage nennt, ihrer Aussage bei der Polizei.
Der ganze Fall wird nur kurz angerissen, die Personen sind lediglich Skizzen, wenn nicht sogar Karikaturen …«
Hatte er heute Vormittag nicht erneut diesen Eindruck gehabt, obwohl es sich um seine eigene Aussage handelte?
Die Presse würde berichten, dass er lange gesprochen habe, und sich vielleicht darüber wundern. Unter einem anderen Vorsitzenden als Xavier Bernerie hätte man ihm das Wort bestimmt nur für ein paar Minuten erteilt, während er heute fast eine Stunde lang im Zeugenstand war.
Er hatte sich um präzise Angaben bemüht und denen, die ihm zuhörten, etwas von dem zu vermitteln versucht, was er ahnte.
Er überflog die Speisekarte und reichte sie Janvier.
»Ich nehme den tête de veau, den Kalbskopf …«
An der Theke stand eine Inspektorengruppe, an einem Tisch saßen zwei Anwälte.
»Übrigens, meine Frau und ich haben uns ein Haus gekauft.«
»Auf dem Land?«
Er hatte sich geschworen, nichts davon zu erzählen, nicht aus Geheimnistuerei, sondern aus Scham, denn man würde mit Sicherheit eine Beziehung zwischen diesem Haus und seiner Pensionierung herstellen, die gar nicht mehr so weit weg war.
»In Meung-sur-Loire?«
»Ja … Es sieht aus wie ein Pfarrhaus …«
In zwei Jahren würde es für ihn kein Schwurgericht mehr geben, außer in den Zeitungen auf Seite drei. Dort würde er dann die Aussagen seines Nachfolgers lesen, des Kommissars …
Ja, wer würde eigentlich seinen Posten übernehmen? Er wusste es nicht. Vielleicht gab es an höchster Stelle schon einige Überlegungen dazu, aber in seiner Gegenwart war natürlich nie die Rede davon.
»Warum machen die beiden jungen Männer da drüben so ein Gesicht?«
Janvier zuckte die Achseln.
»Alle machen im Moment so ein Gesicht.«
Maigret warf einen Blick aus dem Fenster. Es regnete, und er sah die graue Brüstung am Ufer der Seine und die Autos, die mit ihren Reifen das Schmutzwasser zu beiden Seiten hochspritzen ließen, so dass es aussah, als trügen die Autos Schnurrbärte.
»Wie war der Vorsitzende Richter?«
»Sehr gut.«
»Und sie?«
»Ich habe Lapointe beauftragt, ihr nachzugehen. Sie ist einem Winkeladvokaten, diesem Lamblin, in die Hände gefallen …«
»Hat sie gestanden, einen Geliebten zu haben?«
»Man hat sie nicht danach gefragt. Bernerie ist vorsichtig.«
Man durfte schließlich nicht vergessen, dass es bei dem Prozess vor dem Schwurgericht um Gaston Meurant ging und nicht um seine Frau.
»Hat Cajou sie wiedererkannt?«
»Natürlich.«
»Wie hat es ihr Mann aufgenommen?«
»Der hätte mich am liebsten umgebracht.«
»Wird er freigesprochen?«
»Das kann man jetzt noch nicht sagen.«
Auf den Tellern dampfte das Essen, Zigarettenrauch stieg auf, und die Namen der empfohlenen Weine waren mit weißem Stift auf die Wandspiegel geschrieben.
Darunter war auch ein leichter Wein von der Loire, ganz aus der Nähe von Meung und dem Haus, das an ein Pfarrhaus erinnerte.
4
Um zwei Uhr stieg Maigret, immer noch von Janvier begleitet, die große Treppe am Quai des Orfèvres hinauf, die selbst noch am heitersten Sommermorgen trist und grau wirkte. Heute fegte ein feuchter Luftzug über sie hinweg, und die nassen Schuhabdrücke auf den Stufen trockneten nicht.
Schon auf dem ersten Treppenabsatz hörte man aus dem ersten Stock leises
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