Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
ich aus einem Auto einen Fotoapparat gestohlen habe.«
»Weißt du, was es dich diesmal kosten wird?«
Der Junge zuckte die Achseln und gab sich Mühe, den tapferen Helden zu spielen.
»Fünf Jahre, mein Lieber. Und egal, ob die Waffe nun eine Ladehemmung hatte oder nicht, dein Kumpel wird bestimmt nicht unter zehn Jahren davonkommen …«
Das stimmte. Man würde auch den dritten Täter eines Tages finden. Die Ermittlungen würden schnelle Fortschritte machen, und da diesmal keine Gerichtsferien dazwischenlagen, die einen Prozess hinauszögerten, würde Maigret in drei bis vier Monaten erneut vor dem Schwurgericht als Zeuge erscheinen müssen.
»Führ ihn ab, Lucas. Es gibt keinen Grund mehr, ihn von seinem Kumpel zu trennen. Sollen sie sich ruhig unterhalten. Schick mir den ersten Zeugen rein.«
Das waren nur noch Formalitäten. Papierkram. Und wieder rief Lapointe an und berichtete, es gehe bei der Verhandlung jetzt noch schneller voran, und einige Zeugen, die nur fünf Minuten unter Eid gestanden hatten, suchten nun verblüfft und ein wenig enttäuscht einen Platz in der Zuschauermenge.
Um fünf Uhr war Maigret immer noch mit dem Raubüberfall beschäftigt, und sein Arbeitszimmer, in dem die Lampen brannten, füllte sich mit Tabaksqualm.
»Man hat soeben der Zivilpartei das Wort erteilt. Rechtsanwalt Lioran hat eine kurze Erklärung abgegeben. Angesichts der unvorhergesehenen Entwicklung will er sich von vornherein den Anträgen der Staatsanwaltschaft anschließen.«
»Spricht jetzt der Staatsanwalt?«
»Seit zwei Minuten.«
»Ruf mich an, sobald er fertig ist.«
Eine halbe Stunde später gab ihm Lapointe telefonisch einen recht detaillierten Bericht durch. Generalstaatsanwalt Aillevard hatte im Wesentlichen gesagt:
»Wir sind hier, um Gaston Meurant den Prozess zu machen, der angeklagt ist, am siebenundzwanzigsten Februar seiner Tante, Léontine Faverges, die Kehle durchgeschnitten und anschließend ein vierjähriges kleines Mädchen, Cécile Perrin, dessen Mutter als Nebenklägerin auftritt, erstickt zu haben, bis der Tod eintrat.«
Die Mutter, mit rotgefärbtem Haar und immer noch in ihren Pelzmantel gehüllt, hatte einen Schrei ausgestoßen, und man hatte sie aus dem Saal führen müssen, weil sie in lautes Schluchzen ausgebrochen war.
Der Staatsanwalt hatte fortgefahren:
»Wir haben vor diesem Gericht unerwartete Zeugenaussagen vernommen, die jedoch für diesen Fall nicht weiter von Belang sind. An der Beweislast gegen den Angeklagten hat sich dadurch nichts geändert, und die Fragen, die die Geschworenen zu beantworten haben, bleiben die gleichen.
Hat Gaston Meurant rein faktisch die Möglichkeit gehabt, einen Doppelmord zu begehen und Léontine Faverges’ Ersparnisse zu stehlen?
Es steht fest, dass er das Geheimnis der chinesischen Vase kannte und dass seine Tante dort mehrmals Geld genommen hat, um es ihm zu geben.
Reichte das als Motiv?
Am Tag nach dem Verbrechen, am achtundzwanzigsten Februar, war ein Wechsel fällig, den er unterzeichnet hatte, und er besaß nicht die notwendigen Mittel, so dass ihm der Bankrott drohte.
Und haben wir nicht Beweise, dass er an dem besagten Nachmittag in der Rue Manuel gewesen ist?
Sechs Tage später hat man in einem Schrank in seiner Wohnung am Boulevard de Charonne einen ihm gehörenden marineblauen Anzug entdeckt, an dessen Ärmel und Revers Blutflecken waren, deren Ursprung er nicht erklären konnte.
Nach Aussage des Sachverständigen handelt es sich um menschliches Blut und mit hoher Wahrscheinlichkeit um das Blut von Léontine Faverges.
Bleiben noch die Zeugenaussagen, die scheinbar widersprüchlich sind, obwohl die Zeugen alle glaubwürdig erscheinen. Madame Ernie, eine Kundin der Wohnungsnachbarin des Opfers, hat einen Mann in blauem Anzug um fünf Uhr nachmittags aus der Wohnung von Léontine Faverges kommen sehen, und sie glaubt schwören zu können, dass dieser Mann dunkelbraunes Haar hatte.
Andererseits haben wir die Aussage eines Klavierlehrers, Monsieur Germain Lombras, der sich um achtzehn Uhr mit dem Angeklagten in der Werkstatt in der Rue de la Roquette unterhalten hat. Monsieur Germain Lombras hat allerdings eingeräumt, dass er sich, was das genaue Datum dieses Besuchs betrifft, nicht ganz sicher ist.
Wir stehen vor einem ungeheuerlichen Verbrechen, das kaltblütig von einem Mann begangen worden ist, der nicht nur eine wehrlose Frau angegriffen hat, sondern auch nicht davor zurückgeschreckt ist, ein Kind zu ermorden.
Es kann
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