Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
der Nähe an, um Ihnen zu berichten … Ich habe nichts Besonderes mitzuteilen, aber ich nehme an, Sie wollen wissen, was los ist …«
»Sind sie nach Hause gekommen?«
»Ja.«
»Allein?«
»Ja. Kurz darauf ist das Licht im dritten Stock angegangen. Ich habe Schatten hinter dem Vorhang hin und her gehen sehen …«
»Und was passierte dann?«
»Nach etwa einer halben Stunde ist die Frau mit einem Schirm in der Hand wieder runtergekommen. Jussieu ist ihr gefolgt. Sie war erst bei einem Metzger und dann bei einem Bäcker, danach ist sie wieder nach Hause gegangen …«
»Hat Jussieu sie aus der Nähe gesehen?«
»Ja, ziemlich nah, durch die Schaufensterscheibe beim Metzger.«
»Wie sah sie aus?«
»Vermutlich hat sie geweint. Sie hatte ganz rote Wangen und glänzende Augen …«
»Wirkte sie nicht beunruhigt?«
»Jussieu behauptet, nein.«
»Und weiter?«
»Vermutlich haben sie gegessen. Ich habe dann Ginette Meurants Silhouette in dem Raum gesehen, der offenbar das Schlafzimmer ist …«
»Ist das alles?«
»Ja. Sollen wir beide hierbleiben?«
»Das scheint mir am sichersten. Es wäre mir lieb, wenn einer von euch sich im Haus aufstellt. Die anderen Mieter gehen vermutlich früh ins Bett. Jussieu könnte sich zum Beispiel auf dem Treppenabsatz postieren, sobald es überall still geworden ist. Er kann ja der Concierge Bescheid sagen und sie bitten, den Mund zu halten.«
»In Ordnung, Chef.«
»Ruf mich trotzdem in zwei Stunden wieder an.«
»Wenn das Bistro dann noch offen ist.«
»Sonst versuche ich, dort vorbeizukommen.«
Gut, es befand sich also keine Waffe in der Wohnung, aber hatte Léontine Faverges’ Mörder nicht ein Messer benutzt, das im Übrigen nirgends gefunden worden war? Ein sehr scharfes Messer, wie die Sachverständigen behaupten, die davon ausgehen, dass es ein Metzgermesser war.
Sämtliche Messerschmiede und Eisenwarenhändler von Paris waren befragt worden, aber das hatte natürlich auch zu keinem Ergebnis geführt.
Im Grunde wusste man nichts weiter, als dass eine Frau und ein kleines Mädchen tot waren, dass ein bestimmter blauer Anzug, auf dem Blutflecken waren, Gaston Meurant gehörte und dass seine Frau in der Zeit vor dem Verbrechen mehrmals in der Woche mit einem Liebhaber ein Stundenhotel in der Rue Victor-Massé aufgesucht hatte.
Das war alles. Aus Mangel an Beweisen hatten die Geschworenen den Bilderrahmer soeben freigesprochen.
Wenn sie ihm nicht nachweisen konnten, dass er schuldig war, so konnten sie auch nicht behaupten, dass er unschuldig sei.
Während ihr Mann in Untersuchungshaft war, hatte Ginette Meurant ein vorbildliches Leben geführt, war selten ausgegangen und hatte sich mit keiner verdächtigen Person getroffen.
In ihrer Wohnung gab es kein Telefon. Ihre Post war vergeblich überwacht worden.
»Willst du wirklich heute Abend noch da hingehen?«
»Nur eine kleine Runde vor dem Schlafengehen drehen.«
»Ahnst du etwas Schlimmes?«
Was sollte er darauf antworten? Dass die beiden sich so wenig dazu eigneten, zusammen in dieser merkwürdigen Wohnung zu leben, in der die Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs auf den Regalen über dem Ecksofa neben Seidenpuppen und dem neuesten Klatsch über Filmstars stand?
5
Gegen halb zwölf war Maigret am Boulevard de Charonne für einen Augenblick aus dem Taxi gestiegen. Das ausdruckslose Gesicht von Jussieu wirkte übermüdet, als er stumm aus dem Schatten auftauchte und nach oben auf ein erleuchtetes Fenster im dritten Stock deutete. In diesem Viertel brannte fast nirgends mehr Licht, weil die Leute hier alle schon früh am Morgen zur Arbeit aufbrachen.
Es regnete zwar immer noch, aber nicht mehr so heftig, und man konnte allmählich zwischen den Wolken einen silbernen Schimmer erblicken.
»Dieses Fenster gehört zum Esszimmer«, hatte der Inspektor erklärt. Er roch nach kaltem Zigarettenrauch. »Im Schlafzimmer ist das Licht vor einer halben Stunde ausgegangen.«
Maigret wartete ein paar Minuten und hoffte, dass sich hinter dem Vorhang etwas bewegen würde. Da sich nichts rührte, fuhr er nach Hause zurück, um ins Bett zu gehen.
Anhand der Berichte und Telefonanrufe würde er am nächsten Morgen alles rekonstruieren und sämtliche Aktivitäten Meurants minutiös nachvollziehen können.
Morgens um sechs, als die Concierge die Mülleimer wieder ins Haus trug, lösten zwei andere Inspektoren die Kollegen ab, ohne jedoch ins Haus hineinzugehen, denn bei Tag konnte sich unmöglich einer von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher