Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
manchmal zu dritt ausgegangen.«
»Waren die beiden nie zusammen weg?«
»Doch, ab und zu.«
»Ihr Bruder hat im Hotel in der Rue de l’Étoile gewohnt, in der Nähe der Place des Ternes. Hat Ihre Frau ihn manchmal in seinem Zimmer besucht?«
Meurant schrie fast, so sehr quälte ihn das alles:
»Nein!«
»Hat sie jemals einen Pullover besessen, wie man ihn beim Skifahren trägt, einen handgestrickten Pullover aus grober weißer Wolle mit schwarzbraunem Rentiermuster? Ist sie manchmal im Winter so ausgegangen, mit einer an den Fesseln enganliegenden schwarzen Hose?«
Mit gerunzelter Stirn starrte er Maigret an.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Antworten Sie!«
»Ja. Aber selten. Ich mochte es nicht, wenn sie in Hosen auf die Straße ging.«
»Sind Sie in den Pariser Straßen öfters Frauen begegnet, die so herumliefen?«
»Nein.«
»Lesen Sie mal das hier, Meurant.«
Maigret zog ein Blatt aus einer Akte heraus, die Aussage der Inhaberin des Hotels in der Rue Bréa. Sie erinnerte sich deutlich daran, dass Alfred Meurant bei ihr lange ein Zimmer auf monatlicher Mietbasis gehabt hatte und dass er manchmal für einige Tage dort wohnte. Er hatte oft Damenbesuch. Und sie erkannte sofort Ginette Meurant auf dem Foto, das man ihr zeigte. Sie konnte sich sogar noch an deren extravagante Garderobe erinnern …
Es folgte die Beschreibung des Pullovers und der Hose.
War Ginette Meurant vor kurzem wieder in der Rue de Bréa gewesen?
Antwort der Hotelbesitzerin: Vor knapp einem Jahr, als Alfred Meurant auf Durchreise in Paris war.
»Das stimmt nicht!«, protestierte Meurant und warf das Papier auf den Tisch.
»Soll ich Ihnen die ganze Akte zu lesen geben? Sie enthält mindestens dreißig Zeugenaussagen, alle von Hoteliers, einer von ihnen ist aus Saint-Cloud. Fuhr Ihr Bruder ein hellblaues Cabriolet?«
Die Antwort konnte man von Meurants Gesicht ablesen.
»Er war nicht der Einzige. In der Tanzbar in der Rue des Gravilliers hatte Ihre Frau mehr als ein Dutzend Liebhaber.«
Maigret stopfte sich bedächtig und finster eine neue Pfeife, denn es fiel ihm nicht leicht, das Gespräch in dieser Richtung fortzusetzen.
»Das stimmt nicht!«, brummte der Ehemann wieder.
»Sie hat Sie nicht gebeten, sie zu heiraten. Sie hat nichts dazu getan. Sie hat drei Wochen gezögert, bevor sie das erste Mal mit Ihnen ausgegangen ist, vielleicht um Sie nicht zu verletzen. Sie ist mit Ihnen ins Hotel gegangen, als Sie sie darum gebeten haben, denn für sie spielte das keine besondere Rolle.
Sie haben ihr ein angenehmes, leichtes Leben, Sicherheit und die Aussicht auf eine bürgerliche Existenz vorgegaukelt. Sie haben ihr mehr oder weniger versprochen, ihr eines Tages ihren Traum von einem kleinen Restaurant zu erfüllen.
Aus Eifersucht haben Sie sie daran gehindert, arbeiten zu gehen. Sie sind nicht gerne tanzen gegangen. Sie haben sich nicht viel aus Filmen gemacht.«
»Wir sind jede Woche ins Kino gegangen.«
»In der übrigen Zeit musste sie alleine hingehen. Und abends haben Sie gelesen.«
»Ich habe immer den Wunsch gehabt, mich zu bilden.«
»Und sie hat immer von anderen Dingen geträumt. Verstehen Sie allmählich, worauf ich hinauswill?«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Aber Sie sind sicher, mit niemandem über die chinesische Vase gesprochen zu haben. Und am siebenundzwanzigsten Februar haben Sie nicht Ihren blauen Anzug getragen. Außer Ihrer Frau und Ihnen besitzt niemand einen Schlüssel zu der Wohnung am Boulevard de Charonne.«
Das Telefon klingelte. Maigret nahm den Hörer ab.
»Ich bin’s, ja …«
Baron war am Apparat.
»Sie hat gegen neun das Haus verlassen, genau vier Minuten vor neun, und ist in Richtung Boulevard Voltaire gegangen.«
»Was hat sie an?«
»Ein geblümtes Kleid und einen braunen Wollmantel. Keinen Hut.«
»Und weiter?«
»Sie ist in einen Laden für Reisezubehör gegangen und hat einen billigen Koffer gekauft. Und mit dem Koffer in der Hand ist sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt. Anscheinend ist es dort warm, denn sie hat die Fenster aufgemacht. Von Zeit zu Zeit sehe ich sie hin und her gehen, und ich nehme an, dass sie dabei ist, ihre Koffer zu packen.«
Während er zuhörte, beobachtete Maigret Gaston Meurant, der offenbar ahnte, dass von seiner Frau die Rede war, und sich beunruhigt zeigte.
»Es ist ihr doch nichts zugestoßen?«, fragte er während einer kurzen Gesprächspause.
»Da die Concierge ein Telefon hat«, fuhr Baron fort, »habe ich ein Taxi kommen lassen,
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