Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
Aber er nahm nur höchst widerwillig Platz, als wittere er eine Falle.
»Sie dürfen ruhig rauchen.«
Er tat es nicht, obwohl er das Bedürfnis danach hatte, wohl aus Protest oder um nicht in Maigrets Schuld zu stehen, und seine Hand zitterte.
»Es ist für Sie ein Leichtes, Leute wie diese, die auf den guten Willen der Polizei angewiesen sind, aussagen zu lassen, was Sie wollen …«
Er meinte offenbar Nicolas Cajou, den Inhaber des Stundenhotels, und das Zimmermädchen.
Maigret zündete sich gemächlich seine Pfeife an und wartete.
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt …«
Seine Angst trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.
Schließlich ergriff Maigret das Wort.
»Sie wollen also behaupten, dass Sie Ihre Tante und die kleine Céline Perrin getötet haben?«
»Sie wissen genau, dass ich es nicht getan habe.«
»Ich weiß es nicht, aber ich bin davon überzeugt, dass Sie es nicht getan haben. Und was glauben Sie, warum?«
Meurant war so überrascht, dass ihm nichts dazu einfiel.
»Es gibt viele Kinder in dem Haus, in dem Sie wohnen, dort am Boulevard de Charonne, nicht wahr?«
Meurant nickte automatisch.
»Sie hören sie kommen und gehen. Manchmal spielen sie im Treppenhaus, wenn sie aus der Schule kommen. Sprechen Sie ab und zu mit ihnen?«
»Ich kenne sie.«
»Obwohl Sie selber keine Kinder haben, wissen Sie, wann die Schule aus ist. Das hat mich gleich zu Anfang der Ermittlung überrascht. Cécile Perrin ging in den Kindergarten. Léontine Faverges hat sie dort jeden Nachmittag um vier abgeholt, nur donnerstags nicht. Bis vier Uhr war Ihre Tante also allein in der Wohnung.«
Meurant gab sich Mühe, dem Gedankengang zu folgen.
»Sie hatten am achtundzwanzigsten Februar eine größere Summe Geld zu bezahlen, schön. Es ist durchaus möglich, dass Léontine Faverges Ihnen beim letzten Mal, als Sie sich von ihr Geld geliehen haben, zu verstehen gegeben hat, dass dies das letzte Mal sein würde. Angenommen, Sie hätten den Plan gefasst, sie umzubringen, um an das Geld in der chinesischen Vase und an die Aktien zu kommen …«
»Ich habe sie nicht umgebracht.«
»Lassen Sie mich ausreden. Angenommen, sage ich, Sie hätten das geplant, dann hatten Sie keinen Grund, erst nach vier in die Rue Manuel zu gehen und aus diesem Grund zwei Menschen statt einen umzubringen. Mörder, die sich, ohne ein Triebtäter zu sein, an Kindern vergreifen, sind selten, und sie sind Ausnahmefälle.«
Meurants Augen verschleierten sich, und es sah fast so aus, als würde er gleich losweinen.
»Der Mörder von Léontine Faverges und Cécile Perrin wusste entweder nichts von der Existenz der Kleinen, oder er war gezwungen, die Tat erst gegen Abend zu verüben. Wenn er jedoch das Geheimnis der Vase und der Schublade mit den Aktien kannte, wusste er wahrscheinlich auch, dass Cécile Perrin in der Wohnung lebte.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Rauchen Sie eine Zigarette.«
Meurant gehorchte unwillkürlich, blickte Maigret weiterhin argwöhnisch an, seine Wut ließ aber bereits nach.
»Das ist immer noch nur eine Hypothese, nicht wahr? Der Mörder weiß, dass Sie gegen sechs Uhr in die Rue Manuel kommen werden. Er weiß auch, dass die Gerichtsmediziner – die Zeitungen haben das oft genug berichtet – in den meisten Fällen in der Lage sind, den Eintritt des Todes fast auf die Stunde genau festzustellen.«
»Niemand hat gewusst, dass …«
Auch seine Stimme hatte sich verändert, und jetzt wandte er seinen Blick vom Gesicht des Kommissars ab.
»Wenn der Mörder sein Verbrechen gegen fünf Uhr beging, konnte er nahezu sicher sein, dass der Verdacht auf Sie fallen würde. Er konnte nicht ahnen, dass um sechs Uhr noch ein Kunde in Ihre Werkstatt kommen würde, und außerdem hat der Klavierlehrer nur eine formelle Aussage machen können, da er sich wegen des genauen Datums nicht sicher war.«
»Niemand hat gewusst, dass …«, wiederholte Meurant mechanisch.
Im nächsten Moment wechselte Maigret das Thema.
»Kennen Sie Ihre Nachbarn am Boulevard de Charonne?«
»Ich grüße sie auf der Treppe.«
»Kommen sie nie auf eine Tasse Kaffee zu Ihnen? Gehen Sie nie zu ihnen? Pflegen Sie mit niemandem von ihnen freundschaftlichen Kontakt?«
»Nein.«
»Es wäre also möglich, dass keiner von ihnen jemals etwas von Ihrer Tante gehört hat.«
»Mittlerweile schon!«
»Aber vorher nicht. Hatten Ihre Frau und Sie viele Freunde in Paris?«
Meurant antwortete nur ungern, als fürchte er, seine Position
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