Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
Victor-Massé.
Dort blieb er vor dem ›Hôtel du Lion‹ stehen, dem Etablissement, das Nicolas Cajou gehörte, und starrte lange auf die Fassade.
Darauf ging er wieder ziellos zu den großen Boulevards hinunter, blieb manchmal an einer Kreuzung stehen, überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte, und kaufte unterwegs ein Päckchen Zigaretten …
Durch die Rue Montmartre war er zu den Halles gekommen, und der Inspektor hätte ihn in dem Gedränge beinahe aus den Augen verloren.
Am Châtelet hatte er den dritten Cognac getrunken, wieder in einem Zug, und schließlich war er am Quai des Orfèvres gelandet.
Inzwischen war es Tag geworden, und der gelbliche Nebel lichtete sich. Maigret erhielt in seinem Büro einen telefonischen Bericht von Dupeu, der am Boulevard de Charonne auf seinem Posten geblieben war.
»Die Frau ist um zehn vor acht aufgestanden. Ich habe gesehen, wie sie die Vorhänge aufgezogen und dann das Fenster geöffnet hat, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Sie schien nach ihrem Mann Ausschau zu halten. Wahrscheinlich hat sie ihn nicht fortgehen hören und war überrascht, dass er nicht im Esszimmer war. Ich glaube, sie hat mich entdeckt, Chef …«
»Das macht nichts. Falls sie auch aus dem Haus gehen sollte, versuch, ihr auf den Fersen zu bleiben.«
Am Quai des Orfèvres betrachtete Gaston Meurant zögernd die Fenster der Kriminalpolizei, mit dem gleichen Blick, mit dem er vorhin das Stundenhotel angestarrt hatte. Es war jetzt halb zehn. Er schlenderte noch zum Pont Saint-Michel, schien ihn überqueren zu wollen, kehrte jedoch um, ging an dem wachhabenden Polizisten vorbei und verschwand in der Toreinfahrt.
Er kannte sich hier aus. Man sah ihn langsam die graue Treppe hinaufsteigen, wieder stehen bleiben, aber nicht um Luft zu holen, sondern weil er immer noch zögerte.
»Er kommt rauf, Chef!«, gab Baron aus einem Büro im Erdgeschoss telefonisch durch.
Und Maigret wiederholte, an Janvier gewandt, der sich in seinem Büro aufhielt:
»Er kommt rauf.«
Sie warteten beide. Es dauerte lange. Meurant konnte sich nicht entschließen, verlangsamte seine Schritte auf dem Flur und blieb vor der Tür des Kommissars stehen, als wollte er dort anklopfen, ohne sich anmelden zu lassen.
»Was suchen Sie denn?«, fragte ihn Joseph, der alte Amtsdiener.
»Ich möchte Kommissar Maigret sprechen.«
»Kommen Sie hier entlang. Sie müssen erst eine Anmeldung ausfüllen.«
Während er den Bleistift in der Hand hielt, überlegte er noch, ob er besser wieder gehen sollte, da kam Janvier aus Maigrets Büro.
»Sie möchten den Kommissar sprechen? Kommen Sie mit.«
All das musste Meurant wie ein Alptraum vorkommen. Er sah aus wie jemand, der kaum geschlafen hat, er hatte gerötete Augen und roch nach Zigaretten und Alkohol. Trotzdem war er nicht betrunken. Er folgte Janvier, der ihm die Tür öffnete und sie hinter ihm wieder schloss, ohne selbst einzutreten.
Maigret saß an seinem Schreibtisch, tat so, als sei er in das Studium einer Akte vertieft, hob eine Zeitlang nicht einmal den Kopf und wandte sich dann, ohne sich besonders überrascht zu zeigen, seinem Besucher zu und murmelte:
»Moment, bitte …«
Er machte eine Notiz in der Akte, dann noch eine und brummte zerstreut:
»Setzen Sie sich.«
Meurant setzte sich nicht und rührte sich auch nicht von der Stelle.
Schließlich verlor er die Geduld und sagte:
»Sie glauben wohl, dass ich gekommen bin, um mich bei Ihnen zu bedanken?«
Seine Stimme klang anders als sonst. Er war ein wenig heiser und versuchte, einen sarkastischen Ton anzuschlagen.
»Setzen Sie sich«, wiederholte Maigret, ohne ihn anzusehen.
Diesmal machte Meurant drei Schritte und griff nach der Lehne eines mit grünem Plüsch bezogenen Stuhls.
»Haben Sie das getan, um mich zu retten?«
Der Kommissar musterte ihn endlich in aller Ruhe von Kopf bis Fuß.
»Sie sehen erschöpft aus, Meurant.«
»Es geht hier nicht um mich, sondern um das, was Sie gestern getan haben.«
Seine Stimme klang dumpf, als habe er alle Mühe, seine Wut zu beherrschen.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich Ihnen nicht glaube, dass Sie gelogen haben, genau wie diese Leute gelogen haben. Ich würde lieber im Gefängnis sitzen. Was Sie getan haben, ist schlimm …«
Löste ihm der Alkohol ein wenig die Zunge? Möglicherweise. Und trotzdem, er war nicht betrunken, und diese Sätze dürften ihm während der Nacht wiederholt durch den Kopf gegangen sein.
»Setzen Sie sich.«
Endlich!
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