Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
alle anderen auch mit ihr geschlafen haben … Wenn ich gewollt hätte, hätte auch ich mit ihr ins Bett gehen können … obwohl ich fast ihr Großvater sein könnte … Aber lassen wir das … Rose und ich haben mehrmals deswegen Streit bekommen …
Wenn Sie meine Frau fragen, so wird sie kein gutes Haar an ihm lassen, sie wird Ihnen sagen, dass er ein Faulpelz ist, ein Typ, der sich als unverstandenes Genie aufspielt, aber nicht mehr taugt als ein mieser kleiner Zuhälter … Das ist ihre Meinung …
Allerdings hält sie sich die meiste Zeit in der Küche auf, so dass sie ihn nicht so gut kennt wie ich.
Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass Francis völlig ahnungslos war …«
»Halten Sie das denn für möglich?«
Der ehemalige Akrobat hatte strahlende hellblaue Kinderaugen. Trotz seines Alters und seiner reichen Lebenserfahrung, die man in seinem Verhalten spürte, hatte er sich kindlichen Frohsinn und jugendlichen Charme bewahrt.
»Ich mag naiv sein, aber ich glaube, dass in dem Jungen eine Menge steckt … Doch es gab Tage, an denen auch mir Zweifel kamen, an denen ich fast schon wie Rose dachte …
Doch ich halte an meiner Meinung fest: Er hat dieses Mädchen wirklich geliebt … Er hat sie so sehr geliebt, dass er ihr alles geglaubt hat, was sie ihm aufgetischt hat … Das zeigt sich doch schon daran, was er sich von ihr alles hat gefallen lassen … An manchen Abenden, wenn sie zu viel getrunken hatte, hat sie sich vor allen anderen über ihn lustig gemacht und ihm an den Kopf geworfen, er sei ein Versager, eine Null, ein Schlappschwanz, in jeder Hinsicht! Und überhaupt, hat sie gesagt, sie fragt sich wirklich, warum sie überhaupt ihre Zeit mit einer halben Portion wie ihm vergeudet …«
»Und er hat das einfach hingenommen?«
»Er saß dann da wie ein Häufchen Elend, Schweißperlen auf der Stirn … Und doch hat er noch ein gequältes Lächeln zustande gebracht:
›Schon gut, Sophie … Komm jetzt schlafen … Du bist müde …‹«
Im hinteren Teil des Raumes öffnete sich eine Tür. Dort erschien eine kleine und sehr beleibte Frau, die sich die Hände an einer weiten Schürze abwischte.
»Da ist ja der Kommissar …«
Maigret fragte sich, wo er sie schon einmal gesehen hatte, denn er war niemals im ›Trianon-Lyrique‹ gewesen. Sie half seinem Gedächtnis nach:
»Es ist jetzt schon zweiundzwanzig Jahre her … In Ihrem Büro … Sie hatten den Kerl festgenommen, der mir den Schmuck in meiner Loge gestohlen hatte … Ich habe inzwischen ein bisschen zugenommen … Mit Hilfe des Schmucks konnte ich dieses Restaurant hier kaufen … Nicht wahr, Bob? … Was machen Sie denn hier?«
Ihr Mann deutete auf die Zeitung und sagte:
»Sophie ist tot …«
»Unsere Sophie, die kleine Ricain?«
»Ja …«
»Ein Unfall? Ich wette, er saß am Steuer und …«
»Sie wurde ermordet.«
»Was sagen Sie da, Monsieur Maigret?«
»Die Wahrheit …«
»Wann ist es denn passiert?«
»Mittwochabend …«
»Sie haben hier gegessen …«
Rose hatte nicht nur ihre Heiterkeit verloren, die gewissermaßen ihr Markenzeichen gewesen war, sondern auch ihre frühere Herzlichkeit.
»Was hast du ihm erzählt?«
»Ich habe auf seine Fragen geantwortet …«
»Ich wette, dass du kein gutes Haar an ihr gelassen hast … Hören Sie, Herr Kommissar, Bob ist kein schlechter Kerl, und wir beide kommen ausgezeichnet miteinander aus … Aber in puncto Frauen ist auf sein Urteil kein Verlass … In seinen Augen sind sie alle Nutten und die Männer ihre Opfer … Dieses arme Mädchen zum Beispiel …
Schau mich an, Bob … Wer hatte also recht? … Ist es ihm an den Kragen gegangen oder ihr?«
Sie schwieg und blickte die Männer herausfordernd an, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Noch mal das Gleiche, Bob«, murmelte Fernande mit schläfriger Stimme.
Um nicht gleich wieder behelligt zu werden, schenkte ihr Mandille eine doppelte Portion ein.
»Sie haben sie gemocht, Madame?«
»Was soll ich Ihnen sagen? … Sie ist in der Provinz aufgewachsen … Noch dazu in Concarneau, wo ihr Vater Uhrmacher ist … Bestimmt geht ihre Mutter jeden Morgen zur Messe …
Dann kommt sie nach Paris und stößt auf diese Bande von Lümmeln, die sich für Genies halten, weil sie beim Film oder beim Fernsehen arbeiten … Ich war beim Theater, wo ganz andere Ansprüche an einen gestellt werden … Ich habe das ganze Repertoire gesungen, aber deshalb habe ich mich nicht gleich aufgespielt … Wohingegen diese kleinen
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