Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
aufbehalten und seine Pfeife nicht aus dem Mund genommen hatte, öffnete Schranktüren und Schubladen. Kaum Kleidungsstücke, im Ganzen drei billige Kleider in grellen Farben, außerdem Kniebundhosen, Rollkragenpullover …
Die Kochnische neben dem Badezimmer war kaum größer als ein Wandschrank. Sie enthielt einen Gaskocher und einen winzigen Kühlschrank. Darin befanden sich eine angebrochene Flasche Mineralwasser, ein Viertelpfund Butter, drei Eier und ein Kotelett, das in Bratensoße schwamm.
Nichts war hier wirklich sauber, weder die Kleider noch die Kochnische oder das Badezimmer, in dem Wäsche auf dem Boden herumlag.
»Hat niemand angerufen?«
»Seit wir hier sind, kein Mensch.«
Die Abendzeitungen brachten vermutlich schon die ersten Berichte über den Mord oder würden es in Kürze tun.
»Lourtie, geh schnell was essen! Dann kommst du wieder her und machst es dir hier so bequem wie möglich! Alles klar, alter Junge?«
»Alles klar, Chef. Darf ich hier ein bisschen dösen?«
Daraufhin brachen Maigret und Lapointe auf, um das Café ›Vieux-Pressoir‹ ausfindig zu machen.
»Haben Sie ihn festgenommen?«
»Nein. Torrence hat ihn zum ›Hôtel des Cigognes‹ auf der Ile Saint-Louis gefahren.«
Es war nicht das erste Mal, dass sie jemanden dort unterbrachten, den sie im Auge behalten wollten.
»Glauben Sie, dass er sie umgebracht hat?«
»Er ist intelligent und gleichzeitig dumm genug für eine solche Tat. Auf der anderen Seite …«
Maigret wusste beim besten Willen nicht, wie er es beschreiben sollte. Selten hatte jemand in ihm so zwiespältige Gefühle geweckt wie dieser François Ricain. Auf den ersten Blick schien er nur ein ehrgeiziger junger Mann zu sein, von denen tagtäglich Hunderte in Paris und in allen großen Metropolen eintreffen, um ihr Glück zu suchen.
Zeichnete sich in ihm nicht schon die gescheiterte Existenz ab? Er war erst fünfundzwanzig. Manche Berühmtheit musste sich in diesem Alter noch mühsam durchschlagen. Es gab Augenblicke, in denen der Kommissar drauf und dran war, ihm die ganze Geschichte zu glauben. Doch gleich darauf beschlich ihn wieder ein unbehagliches Gefühl, und er seufzte:
»Wenn ich sein Vater wäre …«
Wie würde er sich verhalten, wenn er einen Sohn wie Francis hätte? Würde er versuchen, ihn kleinzukriegen, ihn mit Gewalt auf den richtigen Weg zu bringen?
Er musste unbedingt Ricains Vater in Montmartre aufsuchen. Falls dieser nicht von selbst auf die Idee käme, zur Kriminalpolizei zu gehen, sobald er die Zeitungen gelesen hätte.
Lapointe, der schweigend neben ihm herlief, war auch erst fünfundzwanzig Jahre alt. In Gedanken verglich Maigret die beiden Männer miteinander.
»Ich glaube, da drüben ist es, auf der anderen Seite des Boulevards, gleich neben der Metro.«
Und tatsächlich entdeckten sie nun eine Tür, die von zwei wurmstichigen Holzschrauben aus einer Kelterei flankiert wurde, daneben Fenster mit zugezogenen Vorhängen, die das rosarote Licht der bereits brennenden Lampen durchschimmern ließen.
Es war noch zu früh für einen Aperitif, ganz zu schweigen vom Abendessen, und es befanden sich nur zwei Personen im Lokal. Eine Frau saß auf einem Barhocker und schlürfte mit einem Strohhalm ein gelbliches Getränk, während der Wirt hinter der Theke die Zeitung studierte.
Die Lampen verbreiteten ein rosarotes Licht, die Theke ruhte auf Kelterschrauben. Auf den massiven Holztischen lagen gewürfelte Decken, und die Wände waren zu zwei Dritteln mit dunklem Holz verkleidet.
Maigret, der vor Lapointe eingetreten war, runzelte die Stirn, als er den Mann mit der Zeitung erblickte. Man sah ihm an, dass er überlegte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
Der Wirt hob den Kopf, und schon im nächsten Augenblick hatte er den Kommissar erkannt.
»Das ist aber ein merkwürdiger Zufall …«, brummte er und schlug gegen die noch druckfeuchte Zeitung. »Eben habe ich gelesen, dass Sie mit den Ermittlungen betraut sind …«
Er wandte sich zu der jungen Frau um:
»Fernande, das ist Kommissar Maigret höchstpersönlich … Setzen Sie sich, Kommissar … Was darf ich Ihnen anbieten?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Gastwirt geworden sind.«
»Man wird halt älter …«
Allerdings. Bob Mandille mochte etwa so alt sein wie Maigret. Früher war er in aller Munde gewesen, als er noch jeden Monat eine neue Großtat vollbrachte, hoch in der Luft auf dem Triebwerk eines Flugzeugs herumspazierte, mal mit dem Fallschirm über der Place de
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