Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
gegen den Strich, Ricain frei in Paris herumlaufen zu lassen, aber es gab auch keinen ausreichenden Grund, ihn zu verhaften.
»Fürs Erste möchte ich Sie bitten, mit mir zum Quai des Orfèvres zu kommen.«
»Schon wieder!«
»Es könnte sein, dass ich Ihnen noch ein paar Fragen zu stellen habe … Es könnte nämlich durchaus sein, dass die Froschmänner der Wasserpolizei Ihre Pistole inzwischen wiedergefunden haben.«
»Egal, ob sie sie finden oder nicht, das ändert doch auch nichts mehr.«
»Sie haben ja Seife und einen Rasierapparat … Am Ende des Flurs ist eine Dusche … Ich warte unten oder draußen auf Sie.«
Ein neuer Tag begann, sonnig und mild wie die beiden Vortage, aber noch ließ sich nicht absehen, was er bringen würde.
Die Gedanken des Kommissars kreisten um Ricain, und er musste sich eingestehen, dass fast alles, was er am Abend zuvor über ihn gehört hatte, seine Sympathie erweckte.
Auf jeden Fall war er ein bemerkenswerter junger Mann. Carus war überzeugt, dass viel in ihm steckte. Aber vielleicht begeisterte sich Carus für jeden Künstler, mit dem man ihn bekannt machte, um ihn dann nach einigen Monaten oder Wochen fallenzulassen.
Maigret musste ihn unbedingt in seinem Büro aufsuchen, wohin ihn der Produzent mit so geheimnisvoller Miene bestellt hatte, bestimmt um ihm etwas zu sagen, was er in Noras Beisein nicht aussprechen wollte. Sie hatte es gespürt, und der Kommissar fragte sich, ob Carus tatsächlich in die Rue de Bassano gegangen war oder ob seine Freundin nicht alles daransetzte, um ihn davon abzuhalten.
Bisher hatte er mit diesem kleinen Kreis, wie es deren Zehntausende in Paris gibt, immer nur flüchtig zu tun gehabt. Überall gibt es Zirkel von Freunden, Kollegen, Liebenden oder Mitgliedern eines Stammtisches, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenschließen und wieder auseinandergehen, um dann neue, mehr oder weniger homogene Cliquen zu bilden.
Wie hieß doch noch der Fotograf, der schon zweimal verheiratet gewesen war, von seinen beiden Frauen Kinder hatte und dessen jetzige Freundin auch schon wieder eines erwartete?
Noch warf er die Namen durcheinander, und auch die Rolle, die jeder Einzelne in diesem Kreis spielte, vermochte er nicht genau zu definieren. Sophie aber war von einem guten Bekannten des Ehepaares ermordet worden – oder von jemandem, den nur sie allein kannte. Denn sonst hätte sie doch die Tür nicht geöffnet.
Es sei denn, es gab noch jemanden, der einen Schlüssel besaß!
Maigret ging auf und ab, genau wie Torrence in der Nacht, aber er hatte das Glück, im Sonnenschein umherzuwandern. Auf der Straße waren zahlreiche Hausfrauen unterwegs. Einige von ihnen drehten sich nach dem Herrn um, der da mit auf dem Rücken verschränkten Händen hin und her spazierte, als wäre er ein Lehrer auf dem Schulhof.
Francis musste ihm noch viele Fragen beantworten. Wahrscheinlich würde er wie am Vortag ein schreckhaftes Tier vor sich haben, das sich mal aufbäumte, dann wieder besänftigen ließ, das aber stets voller Misstrauen auf dem Sprung sein und unvermutet ausschlagen würde …
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung …«
Maigret wies auf das Bistro des Kohlenhändlers.
»Wollen Sie nicht einen Schluck trinken?«
»Nein, danke.«
Schade, denn Maigret hätte diesen Frühlingstag gern mit einem Gläschen Weißwein begonnen.
5
Er war nun am toten Punkt angelangt. Im Laufe fast aller seiner Ermittlungen trat irgendwann der Moment ein, wo alles ins Stocken geriet und Maigret anscheinend nichts weiter tat, als vor sich hin zu brüten, wie seine Mitarbeiter sich hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten.
Während der ersten Phase, in der er sich unvermittelt in ein wildfremdes Milieu versetzt fand, völlig unbekannten Menschen gegenüberzutreten hatte, nahm er alles Leben der neuen Umgebung in sich auf, bis er damit vollgesogen war wie ein Schwamm.
So war es am Vorabend im ›Vieux-Pressoir‹ gewesen, wo sich, ohne dass er sich dessen bewusst war, auch die feinsten atmosphärischen Schwankungen, jede Nuance in der Gestik und Mimik der Anwesenden in sein Gedächtnis gegraben hatten.
Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er sich noch in den ›Club Zéro‹ begeben, wo der eine oder andere aus der Clique verkehrte.
Nun war er randvoll mit Eindrücken, Bildern, Sätzen, mehr oder weniger belangvollen Aussagen und erstaunten Blicken, aber noch wusste er nicht, wie er sich auf all das einen Reim machen sollte.
Wer ihn näher kannte,
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