Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
Pfeife an, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann in einer Akte zu blättern.
6
Ricain war mit unsicheren, zögernden Schritten durch die Tür hinausgegangen, wie ein Vogel, der sich nicht recht aus dem offenstehenden Käfig traut. Janvier sah seinen Chef fragend an. Wurde er wirklich ohne jede Überwachung einfach so in die freie Wildbahn entlassen?
Maigret tat so, als ob er die stumme Frage nicht verstehe, und blätterte weiter in seinen Akten, erhob sich schließlich seufzend und trat ans Fenster.
Er war schlechter Laune. Janvier war ins Büro der Inspektoren hinübergegangen, wo er sich im Flüsterton mit Lapointe besprach, als der Kommissar dazukam. Unwillkürlich fuhren die beiden Männer auseinander, aber das war völlig unnötig, denn Maigret schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
So lief er von einem Büro ins andere, als wüsste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er blieb vor einer Schreibmaschine, einem Telefon oder einem leeren Stuhl stehen und schob ohne jeden Grund einen Bogen Papier zur Seite.
Schließlich brummte er:
»Gebt meiner Frau Bescheid, dass ich zum Mittagessen nicht nach Hause komme.«
Die Tatsache, dass er nicht selbst telefonierte, sagte alles. Niemand traute sich, einen Ton zu sagen, noch weniger eine Frage zu stellen. Im Inspektorenbüro warteten alle gespannt ab. Er spürte es wohl, zuckte die Achseln, kehrte in sein eigenes Büro zurück und griff nach seinem Hut.
Er sagte weder, wohin er ging, noch, wann er zurück sein würde, gab keinerlei Anweisungen, als ob ihm die ganze Angelegenheit plötzlich völlig gleichgültig wäre.
Auf der breiten, staubigen Treppe klopfte er flüchtig seine Pfeife am Schuhabsatz aus, durchquerte den Hof, ging grüßend am Wachposten vorbei und wandte sich zur Place Dauphine.
Schon möglich, dass er eigentlich woandershin wollte. Im Geiste wanderte er in dem ihm so unvertrauten Viertel umher, auf dem Boulevard Grenelle, der Rue Saint-Charles, der Avenue La Motte-Picquet.
Er sah die Metro vor sich, die hier oberirdisch verlief und deren dunkle Schienen als Diagonale in den Himmel ragten, vermeinte das dumpfe Rattern der Waggons zu hören … Dann versetzte er sich wieder in die lauschige, ein wenig übertrieben herzliche Atmosphäre im ›Vieux-Pressoir‹, dachte an die allzu fröhliche Rose, die sich immer wieder die Hände an der Schürze abwischte, rief sich das wächserne Gesicht des ehemaligen Stuntmans und sein ironisches Lächeln ins Gedächtnis …
Da war auch Maki, der sanfte, schwere Mann in seiner Ecke, dessen Augen mit jedem Glas trüber und ausdrucksloser wurden … Gérard Dramin mit dem ausgezehrten Gesicht, der ständig an seinem Drehbuch korrigierte … Carus, der sich so eifrig bemühte, zu allen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen, und die von Kopf bis Fuß künstliche Nora mit ihrem gebleichten Haar.
Es war wohl die Macht der Gewohnheit, dass er seinen Schritt, ohne sich dessen bewusst zu sein, zur ›Brasserie Dauphine‹ lenkte. Geistesabwesend nickte er dem Wirt zu, sog den angenehmen Geruch der Gaststätte ein, ging an seinen Ecktisch, setzte sich auf die Bank, wo er schon tausendmal Platz genommen hatte.
»Wir haben heute andouillette, Monsieur Maigret.«
»Mit Kartoffelbrei?«
»Und was möchten Sie vorher?«
»Irgendwas. Eine Karaffe Sancerre.«
Sein Kollege vom Nachrichtendienst aß in einer Ecke zusammen mit einem Beamten vom Innenministerium, den Maigret nur vom Sehen kannte. Die anderen Gäste waren fast ausnahmslos Stammkunden, überwiegend Anwälte, die bald über den Platz eilen würden, um im gegenüberliegenden Palais de Justice ihr Plädoyer zu halten, außerdem ein Untersuchungsrichter und ein Inspektor vom Überwachungsdienst der Spielbanken.
Auch dem Wirt war schnell klar, dass Maigret jetzt nicht für ein Gespräch aufgelegt war. Dieser kaute langsam, gewissenhaft, als vollziehe er eine feierliche Handlung.
Eine halbe Stunde später schlenderte er mit auf dem Rücken verschränkten Händen – wie ein alleinstehender Herr, der seinen Hund ausführt – einmal um den Palais de Justice herum, ohne auf seine Umgebung zu achten, schließlich stieg er die Treppe hoch und stieß die Tür zu seinem Büro auf.
Dort erwartete ihn eine Nachricht von Gastinne-Renette, wenn auch noch kein abschließender Bericht. Bei der aus der Seine gefischten Pistole handelte es sich sehr wohl um die Waffe, aus der der Schuss in der Rue Saint-Charles abgefeuert worden war.
Wieder hob er nur die
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