Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
und wandte sich zur Tür.
»Ein Großer, Hagerer, mit Wildlederjacke?«
»Ja.«
»Vor einer Viertelstunde war er noch hier.«
»Allein?«
»Ja.«
»Wirkte er nervös?«
Der Wirt – wahrscheinlich hieß er Jules – blickte die anderen fragend an.
»Nein … Nicht besonders …«
»War er lange hier?«
»Zwanzig Minuten, vielleicht.«
Als Maigret wieder draußen stand, sah er zwei Polizisten mit Fahrrad und regenglänzender Pelerine neben dem Verletzten stehen. Pardon hatte sich wieder aufgerichtet.
»Ich kann nichts tun … Jemand hat mehrmals mit dem Messer auf ihn eingestochen … Er hat ihn nicht ins Herz getroffen und anscheinend auch keine Schlagader verletzt, sonst wäre mehr Blut da.«
»Wird er wieder zu Bewusstsein kommen?«
»Das weiß ich nicht … Ich möchte ihn lieber nicht umdrehen … Erst im Krankenhaus kann man …«
Krankenwagen und Polizeifahrzeug trafen fast gleichzeitig ein. Die Kartenspieler, die nicht nass werden wollten, standen unter der Tür des Bistros und sahen von weitem zu. Nur der Wirt hielt sich eine Tüte über Kopf und Schultern und trat näher. Er erkannte sofort die Wildlederjacke.
»Ja, das ist er …«
»Hat er etwas zu Ihnen gesagt?«
»Nein … Er hat bloß einen Cognac bestellt.«
Pardon gab den mit der Bahre kommenden Sanitätern Anweisungen.
»Was ist denn das?«, fragte einer der beiden Polizisten und deutete auf einen schwarzen Gegenstand, der einem Fotoapparat glich.
Der Verletzte trug ihn an einem Riemen um den Hals. Es war kein Fotoapparat, sondern ein Kassettenrecorder. Der Regen hatte ihn schon durchnässt, und als der Mann auf die Bahre gelegt wurde, löste Maigret schnell den Riemen.
»Ins Saint-Antoine …«
Pardon stieg mit einem der Sanitäter hinten in den Krankenwagen ein, der andere setzte sich ans Steuer.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte er Maigret.
»Polizei …«
»Sie können vorne bei mir einsteigen.«
Die Straßen waren wie leergefegt. Keine fünf Minuten später kamen der Krankenwagen und dahinter das Polizeifahrzeug im Krankenhaus Saint-Antoine an.
Auch hier stiegen in Maigret alte Erinnerungen auf: die Kugellampe über der Notaufnahme, der lange, schummrige Gang, in dem ein paar Menschen schicksalsergeben auf Bänken warteten und jedes Mal hochfuhren, wenn eine Tür auf- oder zuging oder wenn jemand im weißen Kittel auftauchte und wieder verschwand.
»Haben Sie Namen und Anschrift?«, fragte die Matrone im gläsernen Schalter durch die Sprechklappe.
»Noch nicht …«
Ein Arzt kam, von der Glocke herbeigerufen, vom Ende des Ganges her und drückte widerwillig seine Zigarette aus. Pardon stellte sich vor.
»Haben Sie schon etwas unternommen?«
Der Verletzte, der jetzt auf einer Rollbahre lag, wurde in einen Aufzug geschoben. Pardon ging mit und gab Maigret mit einer flüchtigen Handbewegung zu verstehen, dass er gleich wieder zurück sein werde.
»Wissen Sie etwas über den Tathergang, Herr Kommissar?«
»Nicht mehr als Sie. Ich war bei einem Freund, der im Viertel wohnt und Arzt ist, als jemand zu diesem Freund kam und meldete, in der Rue Popincourt liege jemand verletzt auf dem Gehsteig.«
Der Polizist machte sich Notizen. Es vergingen knapp zehn Minuten in unbehaglichem Schweigen, da tauchte Doktor Pardon schon wieder am Ende des Ganges auf. Das war ein schlechtes Zeichen. Der Arzt machte ein besorgtes Gesicht.
»Tot?«
»Noch bevor wir ihn ausgezogen hatten … Lungenblutung … Das habe ich gleich befürchtet, als ich seinen Atem hörte …«
»Messerstiche?«
»Ja, mehrere. Eine sehr schmale Klinge … In ein paar Minuten bekommen Sie den Inhalt seiner Taschen ausgehändigt. Dann werden sie ihn vermutlich ins Gerichtsmedizinische Institut bringen.«
Diese Seite von Paris war Maigret vertraut. Er hatte sie über Jahre hinweg miterlebt, und doch hatte er sich nie ganz daran gewöhnen können. Und was tat er jetzt hier? Es hatte eine Messerstecherei gegeben, sie ging ihn nichts an. Das kam jede Nacht vor, und am Morgen standen dann ein paar Zeilen darüber in den täglichen Polizeiberichten.
Zufälligerweise hatte er die Sache an diesem Abend aber aus nächster Nähe mitbekommen, deshalb konnte es ihn nicht ganz unberührt lassen. Der italienische Nudelmacher hatte nicht die Zeit gehabt, ihm zu schildern, was er gesehen hatte. Er war jetzt bestimmt wieder bei seiner Frau zu Hause. Sie schliefen im Zwischengeschoss über dem Laden.
Eine Krankenschwester kam mit einem Korb in der Hand auf die kleine
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