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Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher

Titel: Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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nie zuvor gesehen. Ich bereue aufrichtig, ihnen einen solchen Schmerz zugefügt zu haben.
    Ich danke Ihnen und grüße Sie hochachtungsvoll
     
    »Kann ich ihn abdrucken?«
    »Ich habe nichts dagegen. Im Gegenteil. Es wäre ein Anlass für ihn, wieder zu schreiben, und mit jedem Brief verrät er uns ein wenig mehr. Wenn Sie den Brief reprographiert haben, schicken Sie ihn mir doch bitte zu. Einen Boten braucht es aber nicht.«
    Der Anruf kam erst zwölf Minuten nach zwölf; Maigret überlegte gerade, ob er nicht zum Essen gehen sollte.
    »Sie rufen wahrscheinlich von einem Café oder Bistro in der Nähe Ihrer Arbeitsstelle an?«
    »Das stimmt. Waren Sie schon ungeduldig?«
    »Eben wollte ich zum Mittagessen gehen.«
    »Sie wussten doch, dass ich anrufen werde?«
    »Ja.«
    »Haben Sie meinen Brief gelesen? Ich bin davon ausgegangen, dass er Ihnen telefonisch durchgegeben wird. Darum habe ich Ihnen keine Kopie geschickt.«
    »Sie haben das Bedürfnis, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, nicht wahr?«
    »Ich möchte verhindern, dass falsche Vorstellungen entstehen … Wenn jemand einen Menschen umgebracht hat, macht man sich leicht ein falsches Bild von ihm … Sie wahrscheinlich auch …«
    »Wissen Sie, ich habe in dieser Hinsicht schon etliches erlebt …«
    »Ich weiß.«
    »Als es die Straflager auf Guyana noch gab, haben mir einige Häftlinge von dort regelmäßig Briefe geschrieben. Andere kommen mich manchmal besuchen, wenn sie ihre Strafe verbüßt haben.«
    »Wirklich?«
    »Geht es Ihnen etwas besser?«
    »Ich weiß nicht … Jedenfalls konnte ich heute Vormittag fast normal arbeiten … Wenn ich mir vorstelle, dass ich nur einen kleinen Satz auszusprechen brauchte, und diese Leute, die mir jetzt ganz normal begegnen, wären wie ausgewechselt.«
    »Haben Sie Lust, ihn auszusprechen?«
    »Manchmal muss ich mich richtig zusammennehmen … Meinem Abteilungsleiter gegenüber zum Beispiel, der mich sehr von oben herab behandelt …«
    »Sind Sie in Paris geboren?«
    »Nein, in einer kleinen Provinzstadt, ich sage Ihnen nicht, in welcher, weil Sie daraus Rückschlüsse auf meine Person ziehen könnten …«
    »Was war Ihr Vater?«
    »Er ist Chefbuchhalter in einer … sagen wir mal, in einer ziemlich bedeutenden Firma … Die rechte Hand des Inhabers, wissen Sie … Der Dumme, den der Boss abends bis um zehn dabehalten und auch am Samstagnachmittag kommen lassen kann, wenn’s sein muss, auch am Sonntag …«
    »Und Ihre Mutter?«
    »Sie hat immer Probleme mit ihrer Gesundheit. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war sie immer irgendwie krank … Bei meiner Geburt soll es angefangen haben.«
    »Haben Sie keine Geschwister?«
    »Nein, genau deswegen nicht … Sie macht trotzdem den Haushalt, und zwar perfekt … Als ich zur Schule ging, gehörte ich zu den Schülern, die immer tadellos angezogen waren.
    Meine Eltern wollen zu den besseren Leuten gehören. Ich hätte Rechtsanwalt oder Arzt werden sollen … Aber ich hatte die Schule satt … Dann sollte ich in die Firma eintreten, in der mein Vater arbeitet. Sie ist das größte Unternehmen der Stadt. Ich wollte nicht dortbleiben. Ich hatte das Gefühl zu ersticken und bin dann nach Paris gegangen …«
    »Wo Sie in einem Büro ersticken, nicht wahr?«
    »Aber sobald ich draußen bin, kennt mich niemand mehr. Ich bin frei …«
    Er sprach lockerer, natürlicher als das letzte Mal. Er hatte weniger Angst. Die Pausen waren seltener.
    »Was denken Sie über mich?«
    »Haben Sie mich das nicht schon gefragt?«
    »Ich meine, ganz allgemein … Von der Rue Popincourt abgesehen …«
    »Ich denke, dass es zehntausend oder hunderttausend Menschen gibt, denen es genauso ergangen ist wie Ihnen.«
    »Die meisten sind verheiratet und haben Kinder …«
    »Warum haben Sie nicht geheiratet? Weil Sie … ein Leiden haben?«
    »Denken Sie wirklich, was Sie sagen?«
    »Ja.«
    »Wortwörtlich?«
    »Ja.«
    »Ich kann Sie einfach nicht verstehen … Sie sind so anders, als ich mir einen Kommissar der Kriminalpolizei vorgestellt habe …«
    »Es gibt überall solche und solche Menschen … Auch hier am Quai des Orfèvres ist jeder anders.«
    »Was ich vor allem nicht verstehe, ist das, was Sie letztes Mal gesagt haben … Sie haben behauptet, innerhalb von vierundzwanzig Stunden wüssten Sie, wer ich bin.«
    »Richtig.«
    »Und wie das?«
    »Ich werde es Ihnen sagen, wenn wir uns gegenübersitzen.«
    »Welchen Grund haben Sie, es nicht zu tun und mich nicht sofort zu

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