Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
dir nicht eigenartig vor, seine Stimme am Telefon zu hören?«
Sie dachten beide daran, unabhängig voneinander und ganz unwillkürlich.
»Jetzt bin ich schon dreißig Jahre in diesem Beruf, und noch immer berührt es mich eigenartig, wenn ich mit einem Menschen zu tun habe, der einen anderen getötet hat.«
»Warum?«
»Weil er die Schwelle überschritten hat …«
Genauer erklärte er es sich nicht. Er wusste, was er meinte. Ein Mensch, der tötet, schließt sich gewissermaßen selbst aus der menschlichen Gemeinschaft aus. Von einem Augenblick zum anderen ist er nicht mehr ein Mensch wie jeder andere.
Er möchte sich erklären, sagen, dass er … Ein ganzer Schwall von Wörtern drängt ihm auf die Lippen, aber er weiß, dass es sinnlos ist, dass niemand ihn verstehen wird.
Selbst die professionellen Killer: Sie geben sich aggressiv und zynisch, weil sie sich aufspielen und sich selbst einreden müssen, dass sie immer noch Menschen sind.
»Komm bitte nicht zu spät zurück.«
»Ich hoffe, dass ich vor halb sieben wieder da bin.«
Er saß mit seinen Freunden aus dem Dorf zusammen: einfache, aber liebenswürdige Menschen, für die er nicht der berühmte Kommissar war, sondern einfach ein Nachbar, und ein hervorragender Angler dazu. Der rote Spielteppich lag vor ihnen. Die Karten, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten, klebten ein wenig. Der Landwein war kühl und spritzig.
»Sie sagen an, Maigret.«
»Karo …«
Sein Gegner zur Linken meldete eine Dreierflöte, sein Partner vier Damen.
»Trumpf …«
Der Nachmittag verging schnell: Karten ausgeben und aufnehmen. Belote und Rebelote ansagen. Es war wie ein erholsames Schnurren. Ab und zu kam der Wirt vorbei, besah sich reihum die Karten und ging mit einem wissenden Lächeln wieder weg.
Dem Mann, der Antoine Batille erstochen hatte, musste der Sonntag lang vorkommen. Maigret hoffte, dass er nicht zu Hause geblieben war. Ob er wohl eine kleine Wohnung mit eigenen Möbeln hatte oder in Monatsmiete in einer billigen Pension wohnte?
Das Beste, was er tun konnte, war jedenfalls, nicht in seinen vier Wänden zu bleiben, sondern hinauszugehen, unter die Leute, vielleicht auch ins Kino.
In der Rue Popincourt hatte es am Dienstag sintflutartig geregnet, und im Ärmelkanal und in der Nordsee waren sogar Schiffe in Seenot geraten.
Hatte nicht all das seine Bedeutung? Ebenso wie vielleicht auch Antoines Wildlederjacke und seine langen Haare?
Maigret versuchte, nicht daran zu denken und ganz beim Spiel zu sein.
»Was sagen Sie an, Kommissar?«
»Ich passe …«
Der Weißwein stieg ihm ein wenig zu Kopf. Er war es nicht mehr gewohnt. Er war so süffig, dass man die Folgen zu spät bemerkte.
»Ich muss bald gehen …«
»Machen wir bis fünfhundert, einverstanden?«
»Gut, bis fünfhundert.«
Er verlor und bezahlte die Runden.
»Man merkt, dass Sie in Paris das Belote-Spielen vernachlässigen. Ein bisschen eingerostet, was?«
»Ein bisschen …«
»An Ostern müssen Sie für länger kommen.«
»Ich hoffe es. Wenn’s nach mir ginge … Aber solange Verbrecher ihr Unwesen treiben …«
Schon wieder dachte er an den Anruf!
»Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.«
»Nächsten Samstag?«
»Vielleicht …«
Er war nicht enttäuscht. Er hatte das Wochenende gehabt, das er haben wollte. Dass ihn seine Sorgen und Pflichten auf dem Land nicht ganz in Ruhe lassen würden, war zu erwarten gewesen.
»Wann möchtest du fahren?«
»Essen wir erst noch was. Was hast du zum Abendbrot vorgesehen?«
»Der alte Bambois hat mir eine Schleie angeboten. Ich habe sie im Ofen gebacken.«
Er musste sich den knusprigen, goldbraun gebratenen Fisch gleich ansehen.
Sie fuhren langsam, denn nachts war Madame Maigret noch ängstlicher als tagsüber. Maigret drehte das Radio an, lächelte bei den Verkehrsmeldungen und konzentrierte sich dann auf die Nachrichten.
Darin war hauptsächlich von Außenpolitik die Rede, und der Kommissar seufzte erleichtert auf, als feststand, dass über das Verbrechen in der Rue Popincourt nicht gesprochen wurde.
Das hieß, dass der Mörder keine Dummheiten gemacht hatte. Kein Schwerverbrechen, kein Selbstmord. Nur in Südfrankreich war ein kleines Mädchen entführt worden. Die Polizei hoffte noch, sie lebend finden zu können.
Er schlief besser als in der Nacht zuvor, und als ihn der laut knallende Auspuff eines Lastwagens aufweckte, war es draußen schon taghell. Seine Frau lag nicht mehr neben ihm.
Sie musste vor kurzem
Weitere Kostenlose Bücher