Maigret - 70 - Maigret und der Messerstecher
aufgestanden sein, denn ihr Platz fühlte sich noch warm an. Tatsächlich war sie in der Küche und machte Kaffee.
Über das Treppengeländer gebeugt, blickte Madame Maigret ihm nach, als er mit schweren Schritten die Stufen hinunterging, fast so, wie sie einem Kind hinterhergesehen hätte, das zu einer schwierigen Prüfung unterwegs war. Sie wusste über den Fall zwar auch nicht viel mehr als das, was in der Zeitung stand, aber keiner Zeitung wäre je zu entnehmen gewesen, mit welcher Energie er zu verstehen versuchte und mit welcher Konzentration er sich in manche Ermittlungen vertiefte. Er schien regelrecht in die Haut der von ihm verfolgten Täter hineinzuschlüpfen und ihre Ängste und Qualen selbst durchzumachen.
Er hatte Glück und erwischte einen Bus mit offener Plattform; so konnte er seine Morgenpfeife weiterrauchen.
Kaum war er im Büro, rief der Kollege Grosjean an.
»Wie geht’s, Maigret?«
»Bestens. Und Ihnen? Was machen Ihre Halunken?«
»Wider Erwarten erweist sich Gouvion, der heruntergekommene Aufpasser, am nützlichsten. Durch ihn haben wir Zeugen für zwei Einbrüche gefunden, und zwar für das Schloss l’Epine bei Arpajon und die Villa im Waldgebiet von Dreux. Gouvion ist oft drei oder vier Tage lang vor Ort gewesen und hat ausspioniert, wer wann ankommt oder wegfährt. Manchmal hat er auch irgendwo in der Nähe etwas gegessen oder getrunken. Ich glaube, er wird ziemlich bald umfallen und auspacken. Seine Frau, eine ehemalige Statistin vom ›Théâtre du Châtelet‹, bekniet ihn, es zu tun. Sie sind alle vier in der Santé, in Einzelzellen.
Ich wollte Sie einfach auf dem Laufenden halten und Ihnen nochmals danken. Kommen Sie denn mit Ihrem Fall voran?«
»Ganz langsam …«
Eine halbe Stunde später wollte ihn, wie erwartet, der Chefredakteur der Morgenzeitung sprechen.
»Haben Sie wieder eine Nachricht?«
»Ja. Nur ist sie diesmal nicht mit der Post gekommen, sondern in unseren Briefkasten eingeworfen worden.«
»Lang?«
»Ziemlich. Der Umschlag trägt die Aufschrift: Zu Händen des Verfassers des Artikels über die Tat in der Rue Popincourt in der Samstagsausgabe.«
»Wieder in Großbuchstaben?«
»Er scheint ganz geläufig mit dieser Schrift zu schreiben. Soll ich es Ihnen vorlesen?«
»Gern …«
Sehr geehrter Herr Redakteur,
Ich habe Ihre letzten Artikel gelesen, insbesondere den in der Samstagsausgabe. Ich kann zwar seine journalistische Qualität nicht beurteilen, aber ich habe den Eindruck, dass Sie sich wirklich um die Wahrheit bemühen. Won einigen Ihrer Kollegen kann man das nicht sagen; in ihrer Sensationsgier drucken sie, was gerade kommt, auch wenn sie sich am nächsten Tag korrigieren müssen.
Einen Vorwurf muss ich Ihnen dennoch machen. An einer Stelle Ihres letzten Artikels sprechen Sie vom »Schlächter der Rue Popincourt« . Warum dieses Wort, das erstens verletzend ist und zweitens eine Verurteilung beinhaltet? Wegen der sieben Stiche? Wahrscheinlich, denn etwas weiter unten schreiben Sie, der Mörder hätte zugestochen wie ein Irrer.
Sind Sie sich bewusst, dass Sie mit solchen Wörtern sehr weh tun können? Gewisse Dinge im Leben sind an sich schon schwer genug, da braucht man nicht noch oberflächlich über sie zu urteilen.
Mir fällt da unser Innenminister ein, der vor gar nicht so langer Zeit einen fünfzehnjährigen Jungen als »Scheusal« bezeichnet hat, was daraufhin natürlich durch die ganze Presse ging.
Ich verlange nicht, dass man mir Milde widerfahren lässt. Ich weiß, dass ich in den Augen der Leute ein Mörder bin. Aber man soll mir nicht noch mit Wörtern das Leben schwermachen, bei denen die Leute, die sie im Mund führen, keine Vorstellung haben dürften, was sie anrichten können.
Im Übrigen bedanke ich mich für Ihre objektive Berichterstattung.
Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich Kommissar Maigret angerufen habe. Er scheint ein Mensch zu sein, der Verständnis hat für andere Menschen, so dass man sich ihm gerne anvertrauen möchte. Aber zwingt ihn nicht sein Beruf dazu, eine bestimmte Rolle zu spielen, vielleicht sogar Fallen zu stellen?
Ich glaube, ich werde ihn wieder anrufen. Ich fühle mich sehr matt. Morgen werde ich aber wieder zur Arbeit gehen. Ich bin ein kleiner Büroangestellter.
Am Samstag war ich auf der Beerdigung von Antoine Batille. Ich habe seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester gesehen. Ich möchte ihnen mitteilen, dass ich nichts gegen ihren Sohn hatte. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte ihn
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