Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
hatte Sie da noch nicht gesehen?«
»Nein. Das war erst in der vierten Nacht, wie ich es Ihnen schon gesagt habe.«
»Sind Sie sicher, daß Fallut sich schon vorher so sonderbar benommen hat?«
»Vielleicht nicht so sehr, aber danach wurde es an manchen Tagen richtig unheimlich, und ich habe mich gefragt, ob er nicht wirklich verrückt war.«
»Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, was der Grund dieser Haltung war?«
»Nein! Ich habe darüber nachgedacht. Viele Male habe ich mir gesagt, daß es zwischen ihm und dem Funker ein Geheimnis geben müßte. Sogar Schmuggelei kam mir dabei in den Sinn … Oh! Nie wieder werde ich auf einem Fischdampfer mitfahren! Und Sie wissen, es hat drei Monate gedauert! Um dann so zu enden! Der eine ist bei der Ankunft ermordet worden und der andere … Es stimmt doch, daß er nicht tot ist, oder?«
Sie hatten die Kais erreicht, und die Frau blieb zögernd stehen.
»Wo ist Gaston Buzier?«
»Im Hotel. Er weiß genau, daß er mich jetzt in Ruhe lassen muß und daß ich ihm ins Gesicht springen würde, wenn …«
»Gehen Sie jetzt zu ihm?«
Sie zuckte die Schultern, als wollte sie sagen: Warum nicht? Und irgendwie fand sie auch wieder zu ihrer Koketterie zurück, denn als sie sich von Maigret verabschiedete, murmelte sie mit einem unsicheren Lächeln:
»Ich danke Ihnen, Herr Kommissar. Sie sind gut zu mir gewesen … Ich …«
Sie wagte den Satz nicht zu vollenden, aber es war eine deutliche Aufforderung, ein Versprechen.
»Ist schon recht«, brummte er und ging.
Kurz darauf stand er vor der Tür zum Rendez-vous des Terre-Neuvas.
Als er die Klinke niederdrückte, hörte er drinnen deutlich einen Lärm, als spräche ein Dutzend Männer zu gleicher Zeit.
Aber als die Tür aufging, da trat ohne jeden Übergang plötzlich eine absolute Stille ein. Dabei waren bestimmt mehr als zehn Männer im Raum, die zu zweit oder zu dritt beisammensaßen und sich über die Tische hinweg unterhalten haben mußten.
Der Wirt ging auf Maigret zu und schüttelte ihm die Hand, wobei er irgendwie verlegen wirkte.
»Stimmt es, was da erzählt wird? Le Clinche hat sich eine Kugel verpaßt?«
Die Gäste griffen zu ihren Gläsern und tranken, nur um sich irgendwie zu beschäftigen. P’tit Louis war da, der Neger, der Bretone, der Chefmaschinist und noch ein paar andere von dem Fischdampfer, die der Kommissar mittlerweile vom Sehen kannte.
»Es stimmt«, nickte Maigret.
Er bemerkte, daß der Chefmaschinist plötzlich unruhig auf der mit Kunstleder bezogenen Bank hin und her rutschte.
»Eine großartige Fahrt!« murrte jemand in einer Ecke in einem sehr breiten normannischen Dialekt.
Und diese Worte schienen so ziemlich genau die allgemeine Meinung zu vertreten, denn man nickte zustimmend, und einer wiederholte, während er seine Faust auf den Marmortisch schlug:
»Ja! Eine Unglücksfahrt!«
Aber dann hustete Léon laut, um seine Gäste zur Vorsicht zu mahnen, und deutete auf einen Fischer in roter Matrosenbluse, der allein in einer Ecke saß und trank.
Maigret nahm in der Nähe der Theke Platz und bestellte einen Pernod mit Wasser.
Es wurde nichts mehr gesprochen. Keiner wußte so recht, was er mit sich anfangen sollte. Und so rettete Léon geschickt die peinliche Situation, indem er der größten Gruppe vorschlug:
»Wollt ihr die Dominosteine?«
Das war ein Mittel, die Stille zu verdrängen und die Hände zu beschäftigen. Die schwarzen Dominosteine wurden mit dem Rücken nach oben auf der Marmortischplatte gemischt. Der Wirt setzte sich neben den Kommissar.
»Ich wollte verhindern, daß sie weiterredeten«, flüsterte er, »denn der Mann, der links in der Ecke neben dem Fenster sitzt, ist der Vater des Jungen … Verstehen Sie?«
»Welches Jungen?«
»Des Schiffsjungen … Jean-Marie. Der, der am dritten Tag über Bord gegangen ist …«
Der Mann spitzte die Ohren. Wenn er auch nichts von dem Gesagten verstehen konnte, so hatte er doch gemerkt, daß man über ihn sprach. Er machte der Kellnerin ein Zeichen, sein Glas neu zu füllen, leerte es in einem Zug und schüttelte sich vor Abscheu.
Er war betrunken. Seine hellblauen, glotzenden Augen waren getrübt. Ein Stück Kautabak bauschte seine linke Wange auf.
»Macht er auch die Neufundlandfahrt?«
»Früher hat er sie mitgemacht. Aber jetzt hat er sieben Kinder, und im Winter geht er auf Heringfang, weil er da nicht so lange unterwegs ist. Zuerst bleibt er einen Monat draußen, dann immer weniger, je weiter die Heringe nach
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