Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
gefunden?«
»Einen Pensionär, der seit acht Jahren kein Schiff mehr geführt hat! Und früher befehligte er einen Dreimaster! Das wird lustig werden!«
»Und einen Funker auch?«
»Ein Junge, den sie von der Schule geholt haben. Gewerbeschule, nennen sie das heute.«
»Ist der Erste Offizier zurück?«
»Man hat ihm ein Telegramm geschickt. Er wird morgen früh eintreffen.«
»Und die Mannschaft?«
»Wie immer! Man nimmt, was im Hafen herumlungert … Prima, nicht wahr?«
»Hat man auch einen Schiffsjungen gefunden?«
Der andere sah ihn scharf an.
»Ja!« sagte er kühl.
»Und Sie, sind Sie froh, wieder auszufahren?«
Er bekam keine Antwort. Der Chefmaschinist bestellte sich noch einen Grog. Léon sagte leise:
»Es sind vorhin Nachrichten von der ›Pacific‹ eingetroffen, die diese Woche heimkehren sollte. Es ist ein Schwesterschiff der ›Océan‹. Sie ist auf einen Felsen aufgelaufen und binnen drei Minuten gesunken. Alle Männer sind dabei umgekommen … Oben beherberge ich die Frau des Ersten Offiziers, die aus Rouen gekommen ist, um ihren Mann zu empfangen. Sie verbringt jeden Tag an der Mole. Sie weiß noch nichts. Die Schiffsgesellschaft wartet noch auf eine Bestätigung, ehe sie das Unglück bekanntgibt.«
»Eine Unglücksserie«, murmelte der Chefmaschinist, der zugehört hatte.
Der Neger gähnte und rieb sich die Augen, dachte aber nicht daran zu gehen. Die Dominosteine lagen verlassen auf der grauen Tischplatte, wo sie eine komplizierte Zeichnung bildeten.
»Kurz und gut«, sagte Maigret bedächtig, »niemand weiß, warum der Funker versucht hat, sich das Leben zu nehmen?«
Seine Worte stießen auf ein beharrliches Schweigen. Wußten alle diese Männer Bescheid? Trieben sie diese Art von Freimaurerei unter Seeleuten so weit, daß sie den Landratten jede Einmischung in ihre Angelegenheiten nahezu unmöglich machten?
»Wieviel bin ich Ihnen schuldig, Julie?«
Maigret stand auf, zahlte und ging mit schweren Schritten zur Tür. Zehn Augenpaare blickten ihm nach. Er drehte sich noch einmal um, sah aber nur in verschlossene, mürrische Gesichter. Und Léon, der sich als Kneipenwirt ja etwas zugänglicher gezeigt hatte, hielt letzten Endes doch zu seinen Gästen.
Es war Ebbe. Von der »Océan« waren nur der Kamin und die Lademasten zu sehen. Die Waggons waren verschwunden. Der Kai war menschenleer.
Ein mit zwei Männern besetztes Fischerboot, an dessen Mastspitze ein weißes Licht tanzte, entfernte sich langsam in Richtung Mole.
Maigret stopfte sich eine letzte Pfeife und warf einen Blick über die Stadt und die Türme der Benediktinerkirche, neben der die dunklen Mauern des Krankenhauses emporwuchsen.
Die beleuchteten Fenster des Rendez-vous des Terre-Neuvas warfen zwei helle rechteckige Flecken auf den Kai.
Das Meer war ruhig. Man hörte nur das Plätschern des Wassers, das sich in sanften Wellen um die Holzpfähle der Mole wand und gegen die Kaimauer schlug.
Der Kommissar war bis zum Ende des Kais gegangen. Schwere Trossen, auch jene der »Océan«, waren um die eisernen Poller längs des Kais geschlungen.
Maigret beugte sich vor. Auf der »Océan« verschlossen Männer die Türen der Laderäume, in denen man am Tag das Salz verstaut hatte. Ein blutjunger Mann, jünger noch als Le Clinche, lehnte im Straßenanzug an der Funkerkabine und sah den Matrosen bei ihrer Arbeit zu.
Er mußte der Nachfolger des Mannes sein, der sich am Nachmittag eine Kugel in den Bauch geschossen hatte. Mit hastigen, nervösen Zügen rauchte er eine Zigarette.
Er kam aus Paris, von der Schule. Er war aufgeregt. Vielleicht träumte er von großen Abenteuern.
Maigret konnte sich nicht losreißen. Das Gefühl, dem Geheimnis nahe, zum Greifen nahe zu sein, nur noch eine Anstrengung machen zu müssen, hielt ihn zurück.
Plötzlich drehte er sich um, weil er spürte, daß jemand hinter ihm war. In der Dunkelheit erkannte er ein rotes Matrosenhemd mit einem Trauerflor.
Der Mann hatte ihn nicht gesehen oder er hatte ihn einfach nicht beachtet. Er ging bis an den äußersten Rand des Kais, und bei seinem Zustand war es ein Wunder, daß er nicht ins Wasser stürzte. Der Kommissar sah ihn nur noch von hinten. Er fürchtete, daß der Betrunkene ins Schwanken geraten und auf dem Deck des Fischdampfers aufschlagen würde.
Aber nein! Der andere sprach leise vor sich hin, kicherte, ballte die Faust. Dann spuckte er ein-, zwei-, dreimal auf das Schiff hinunter. Er spuckte, um damit seinen ganzen Ekel
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