Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Spannung beobachtete. Sein Verhalten fesselte ihn. Le Clinche rührte sich nicht. Er saß der Frau zwar nicht zugewandt, aber er mußte sie trotzdem verschwommen zu seiner Linken sehen, auf jeden Fall mußte er den rosa Fleck ihrer Bluse wahrnehmen.
Seine glanzlosen grauen Augen hatten etwas Starres. Und seine auf dem Tisch liegende Hand schloß sich langsam, sehr langsam, wie die Fangarme eines Tintenfischs.
Man konnte noch nicht vorhersagen, was er tun würde. Würde er aufstehen und davonlaufen? Würde er sich auf die immer noch schwatzende Frau stürzen? Würde er …
Nein! Nichts von all dem! Etwas anderes geschah, etwas hundertmal Eindrucksvolleres. Nicht nur seine Hand schloß sich. Sein ganzes Wesen! Er schrumpfte in sich zusammen. Er verschloß sich vor der Außenwelt.
Seine Augen wurden so grau wie sein Gesicht.
Er rührte sich nicht. Atmete er noch? Kein Zucken und kein Zittern. Aber diese immer vollkommener werdende, trugbildhafte Starre.
»Das erinnert mich an einen anderen Liebhaber, der verheiratet war und drei Kinder hatte …«
Marie Léonnec dagegen zitterte heftig, und sie trank ihre Tasse in einem Zug leer, nur um irgend etwas zu tun.
»Er war der leidenschaftlichste Mann der Welt. Manchmal weigerte ich mich, ihn zu empfangen, und er schluchzte auf dem Treppenabsatz so laut, daß alle Mieter sich köstlich amüsierten. ›Meine kleine Adèle, meine angebetete Geliebte …‹ Die ganze Leier! An einem Sonntag treffe ich ihn bei einem Spaziergang mit Frau und Kindern. Ich höre, wie seine Frau ihn fragt: ›Was ist mit der denn los?‹ Und er ernst: ›Bestimmt eine Nutte! Schon die lächerliche Art, wie sie sich kleidet …‹«
Und sie lachte. Sie posierte für die ganze Terrasse, spähte nach der Wirkung ihrer Worte in den Gesichtern aus.
»Trotzdem, es gibt auch Leute, die weniger gute Nerven haben.«
Ihr Begleiter versuchte von neuem, sie zum Schweigen zu bringen. Er sprach leise auf sie ein.
»Red keinen Quatsch! … Hast du etwa Angst? Ich zahle, was ich bestelle, oder nicht? Ich tu keinem etwas Böses! Folglich hat mir niemand etwas vorzuschreiben! … Was ist nun mit den Erdnüssen, Garçon? Und bringen Sie mir noch einen Schnaps!«
»Wir sollten gehen«, sagte Madame Maigret.
Es war zu spät. Adèle war in Fahrt. Man spürte es: Wäre man jetzt gegangen, so hätte sie alles darangesetzt, einen Skandal auszulösen.
Marie Léonnec blickte vor sich auf den Tisch. Ihre Ohren leuchteten dunkelrot, ihre Augen glänzten, den Mund hatte sie vor Angst halb geöffnet.
Le Clinche saß mit geschlossenen Augen da. Bewegungslos, blind, das Gesicht zu einer Maske erstarrt. Seine Hand lag immer noch wie leblos auf dem Tisch.
Nie zuvor hatte Maigret Gelegenheit gehabt, ihn so genau zu beobachten. Das Gesicht war sehr jung und sehr alt zugleich, wie man es oft bei jungen Leuten sieht, die eine schwere Kindheit hinter sich haben.
Le Clinche war groß, überdurchschnittlich groß, aber seine Schultern waren noch nicht die eines Mannes.
Die zu wenig gepflegte Haut war mit Sommersprossen übersät. Er hatte sich an diesem Tag noch nicht rasiert, und ein blonder Flaum zeigte sich am Kinn und auf den Wangen.
Er war nicht schön. Er hatte bestimmt noch nicht oft in seinem Leben gelacht. Dagegen hatte er nächtelang viel gelesen und viel geschrieben. In ungeheizten Zimmern, in seiner vom Meer hin und her gerüttelten Kabine, im Schein unzureichender Lampen.
»Was mich eigentlich am meisten anwidert, ist die Tatsache, daß dabei manche Leute so anständig tun und doch nicht mehr taugen als wir.«
Adèle wurde ungeduldig. Sie war imstande, Gott weiß was zu sagen, nur um ihr Ziel zu erreichen.
»Zum Beispiel die jungen Mädchen, die die Unschuld vom Lande spielen und die hinter einem Mann herlaufen, wie sich das keine Dirne erlauben würde …«
Der Wirt des Hotels stand unter der Tür und schien seine Gäste fragend anzublicken, als wollte er von ihnen hören, ob er eingreifen solle.
Maigret sah nur noch Le Clinche. Er hatte ihn sozusagen in Großformat vor sich. Der Kopf hatte sich ein wenig nach vorne geneigt. Die Augen waren immer noch zu.
Aber unter den geschlossenen Lidern drangen Tränen hervor, drückten sich, eine nach der anderen, durch die Wimpern, verfingen sich dort und rannen ihm schließlich über die Wangen.
Es war nicht das erstemal, daß der Kommissar einen Mann weinen sah. Aber es war das erstemal, daß es ihm so nahe ging. Vielleicht, weil es so stumme Tränen waren,
Weitere Kostenlose Bücher