Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
Unfall fehlte uns gerade noch! … Also, was wollten Sie mit Ihrer roten Tinte?«
»Nichts. Ich danke Ihnen.«
P’tit Louis kam ohne seine Stiefel zurück, hatte aber schon wieder ein paar Schnäpse intus. Er trug eine Schiebermütze, und seine Füße steckten in ausgetretenen Sandalen.
3.
Das Bild ohne Kopf
Und man könnte mir trotzdem nichts nachsagen. Ich habe Ersparnisse, und sie sind so viel wert wie das Gehalt eines Kapitäns.«
Maigret verabschiedete sich von Madame Bernard an der Tür ihres kleinen Hauses in der Rue d’Etretat. Die Frau war in den Fünfzigern und sah noch sehr gut aus. Eine halbe Stunde lang hatte sie erzählt – von ihrem ersten Mann, ihrem Witwenleben, vom Kapitän, der ihr Mieter geworden war, von den Gerüchten, die über ihre Beziehungen umgegangen waren und schließlich von einer Unbekannten, die bestimmt einen »schlechten Lebenswandel« führte.
Der Kommissar hatte sich im ganzen Haus umgesehen. Es war wenig geschmackvoll eingerichtet, aber sauber. Kapitän Falluts Zimmer war noch so, wie man es für seine Rückkehr hergerichtet hatte.
Kaum persönliche Dinge: ein paar Kleidungsstücke in einem Koffer, ein paar Bücher, hauptsächlich Abenteuerromane, und Fotos von Schiffen.
All das erweckte den Anschein eines friedlichen, durchschnittlichen Lebens.
»Es war abgemacht, nicht ausdrücklich, aber wir wußten beide, daß wir schließlich heiraten würden. Ich hätte das Haus, die Möbel, die Wäsche in die Ehe gebracht. Nichts hätte sich geändert, und wir hätten ein ruhiges Leben führen können, vor allem in drei oder vier Jahren, wenn er in Pension gegangen wäre.«
Durch die Fenster sah man auf das gegenüberliegende Lebensmittelgeschäft, die abschüssige Straße und den Gehweg, auf dem Kinder spielten.
»Es war im letzten Winter, als er diese Frau getroffen hat. Es geriet alles durcheinander. In seinem Alter! Ist es möglich, sich derart in so eine Kreatur zu verlieben? Und er tat so geheimnisvoll! Er muß sich mit ihr in Le Havre oder anderswo getroffen haben, denn hier hat man sie nie zusammen gesehen. Ich spürte, daß er etwas verheimlichte. Er kaufte sich feinere Unterwäsche und einmal sogar seidene Socken! Da zwischen uns ja nichts war, ging mich das nichts an, und ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich bestimmte Absichten.«
Diese Unterhaltung mit Madame Bernard brachte Licht in einen ganzen Lebensabschnitt des Toten. Er war ein untersetzter Mann mittleren Alters gewesen, der immer, wenn er vom Fischfang in den Hafen zurückkehrte, wie auch den ganzen Winter über, wie ein braver Bürger hier bei Madame Bernard wohnte, die für ihn sorgte und darauf wartete, von ihm geheiratet zu werden.
Er aß mit ihr im Eßzimmer unter dem Bild, das ihren ersten Mann mit einem blonden Schnurrbart zeigte. Danach ging er in sein Zimmer und las einen Abenteuerroman.
Doch plötzlich wurde dieser Friede gestört. Eine andere Frau trat auf die Bildfläche. Kapitän Fallut fuhr häufig nach Le Havre, rasierte sich sorgfältiger, kaufte sich sogar seidene Socken und ging seiner Wirtin aus dem Weg!
Aber er war ja nicht verheiratet, hatte keinerlei Verpflichtungen! Er war frei! Und doch zeigte er sich kein einziges Mal mit der Unbekannten in Fecamp.
War es die große Liebe, das große Abenteuer, das sich ihm in seinen späten Jahren darbot? Oder irgendeine billige Liebschaft?
Maigret erreichte den Strand, entdeckte seine Frau in einem rotgestreiften Liegestuhl und neben ihr Marie Léonnec, die nähte.
Ein paar Leute badeten. Der Kieselstrand glänzte weiß in der Sonne. Das Meer war ruhig. Drüben, auf der anderen Seite der Mole, die »Océan«, am Kai vertäut, mit dem verdorbenen Kabeljau, den man immer noch auslud, und den mürrischen Matrosen, die sich scheuten, über ihre letzte Fahrt zu reden.
Maigret küßte seine Frau auf die Stirn, nickte dem Mädchen zu und antwortete auf ihren fragenden Blick:
»Nichts Besonderes.«
Madame Maigret sagte aufgeregt:
»Mademoiselle Léonnec hat mir ihre ganze Geschichte erzählt. Glaubst du, daß dieser Junge einer solchen Tat fähig ist?«
Sie machten sich langsam auf den Weg zum Hotel. Maigret trug die beiden Liegestühle. Sie wollten sich gerade zu Tisch setzen, als ein uniformierter Beamter erschien, der den Kommissar suchte.
»Man hat mich beauftragt, Ihnen dies hier zu zeigen. Es ist vor einer Stunde gekommen.«
Er reichte ihm einen geöffneten gelben Briefumschlag, der keinerlei Adresse trug. Darin
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