Maigret am Treffen der Neufundlandfahrer
befand sich ein Blatt Papier, und in einer kleinen, sehr sauberen Schrift stand da:
Man soll niemandem die Schuld an meinem Tod geben und nicht versuchen, meine Tat zu verstehen.
Hier ist mein Letzter Wille: Alles, was ich besitze, ve r mache ich der Witwe Bernard, die es immer gut mit mir gemeint hat. Als Gegenleistung soll sie meine goldene Uhr meinem Neffen schicken, den sie kennt, und dafür sorgen, daß ich im Friedhof von Fécamp neben meiner Mutter beerdigt werde.
Maigret riß staunend die Augen auf.
»Es ist mit Octave Fallut unterschrieben!« sagte er. »Wie ist dieser Brief ins Kommissariat gelangt?«
»Man weiß es nicht. Man hat ihn im Briefkasten gefunden. Es scheint wirklich Falluts Schrift zu sein. Der Kommissar hat sofort die Staatsanwaltschaft informiert.«
»Und doch ist er erwürgt worden! Sich selbst zu erwürgen, ist doch wohl unmöglich!« murmelte Maigret.
An der gemeinsamen Gästetafel in ihrer Nähe ging es laut zu. Eine Schüssel Radieschen wurde aufgetragen.
»Warten Sie einen Augenblick, damit ich diesen Brief kopieren kann. Sie müssen ihn sicher wieder mitnehmen?«
»Man hat mir keine besonderen Anweisungen gegeben, aber ich nehme an …«
»Ja. Er gehört in die Akte.«
Kurze Zeit danach blickte sich Maigret, die Kopie in der Hand, ungeduldig im Speisesaal um, wo er eine Stunde auf sein Essen würde warten müssen. Marie Léonnec beobachtete ihn die ganze Zeit, wagte aber wegen seines mürrischen Gesichts nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Nur Madame Maigret seufzte beim Anblick der blassen Schnitzel:
»Im Elsaß hätten wir es doch besser gehabt!«
Maigret wartete den Nachtisch gar nicht erst ab. Er fuhr sich mit der Serviette über den Mund und stand auf. Es drängte ihn, das Schiff, den Hafen, die Matrosen wiederzusehen. Unterwegs murmelte er:
»Fallut wußte, daß er sterben würde. Aber wußte er, daß er ermordet würde? Wollte er mit seinem Brief den Mörder von vorneherein schützen oder wollte er sich einfach nur umbringen?
Außerdem, durch wen ist der gelbe Umschlag in den Briefkasten des Kommissariats gelangt? Ein Umschlag ohne Briefmarke, ohne Adresse!«
Die Neuigkeit mußte sich schon verbreitet haben, denn als Maigret den Fischdampfer erreichte, sprach ihn der Direktor der Französischen Kabeljau-Gesellschaft an. Seine Stimme klang ironisch und aggressiv.
»Nun, es sieht so aus, als hätte Fallut sich selbst erwürgt? … Wer hat sich denn diese Geschichte einfallen lassen?«
»Sagen Sie mir lieber, welche Offiziere der ›Océan‹ noch an Bord sind.«
»Keiner! Der Erste Offizier ist nach Paris gefahren, um sich zu amüsieren. Der Chefmaschinist ist zu Hause in Yport und kommt erst wieder, wenn die Ladung gelöscht ist.«
Maigret sah sich noch einmal in der Kabine des Kapitäns um. Sie war klein. Ein Bett mit einer schmutzigen Steppdecke. Ein Wandschrank. Auf dem Tisch mit der Wachstuchdecke eine emaillierte blaue Kaffeekanne. Stiefel mit Holzabsätzen in einer Ecke.
Schummriges Licht und überall Schmutz, dazu der beißende Geruch, der auf dem ganzen Schiff herrschte. Auf Deck hingen blaugestreifte Trikots zum Trocknen. Maigret wäre beinahe ausgerutscht, als er den von Fischabfällen glitschigen Steg hinunterging.
H»Haben Sie etwas gefunden?«
Der Kommissar zuckte die Schultern, warf noch einen düsteren Blick auf die »Océan« und erkundigte sich dann bei einem Zöllner, wie man nach Yport käme.
Yport war ein Dorf am Fuß der Steilküste, sechs Kilometer von Fécamp entfernt. Ein paar Fischerhäuschen, ein paar verstreute Bauernhöfe, Villen, die während der Sommersaison größtenteils vermietet waren, und ein einziges Hotel.
Auch dort Badegäste am Strand, spielende Kinder und Mütter, die strickten oder stickten.
»Bitte, wo ist das Haus von Monsieur Laberge?«
»Meinen Sie den Chefmaschinisten von der ›Océan‹ oder den Bauern?«
»Den Maschinisten.«
Man zeigte ihm ein kleines Haus mit einem Gärtchen. Als er sich der grüngestrichenen Haustür näherte, hörte er, wie sich drinnen jemand laut stritt. Es waren die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Aber Maigret konnte nichts verstehen. Er klopfte.
Es wurde still. Schritte kamen näher. Die Tür öffnete sich und ein großer, hagerer Mann schaute ihn mißtrauisch und unfreundlich an.
»Was ist?«
Eine Frau im Hauskleid brachte schnell ihr wirres Haar in Ordnung.
»Ich bin von der Kriminalpolizei und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Kommen Sie
Weitere Kostenlose Bücher