Maigret bei den Flamen
ihre schnellen Schiffe mit den starken, tiptop gepflegten Motoren den Franzosen Konkurrenz machten und weil sie Fracht selbst zu lächerlichen Tarifen entgegennahmen.
»Und dann fangen sie auch noch an, junge Mädchen umzubringen!«
Diese Bemerkung galt Maigret, und man beobachtete ihn dabei aus den Augenwinkeln.
»Man fragt sich, worauf die Polizei eigentlich noch wa r tet, um die Peeters zu verhaften. Vielleicht haben sie aber auch zuviel Geld, und deshalb traut man sich nicht …«
Maigret ging hinaus , wanderte noch einige Minuten ziellos über den Kai und betrachtete das braune Wasser, das Äste und Zweige mit sich fortschwemmte. In der kleinen Straße zur Linken faßte er das Haus ins Auge, das Anna ihm gezeigt hatte.
Das Licht an diesem Morgen war traurig, der Himmel eintönig und grau. Die Leute froren und blieben nicht lange auf den Straßen.
Der Kommissar ging zur Haustür und zog an der Glocke. Es war kurz vor halb neun. Die Frau, die ihm die Tür öffnete, war offenbar gerade mit Reinemachen beschäftigt, denn sie wischte sich die Hände an der feuchten Schürze ab.
»Zu wem wollen Sie?«
Am Ende des Flurs sah man eine Küche und in deren Mitte einen Eimer und einen Schrubber.
»Ist Monsieur Piedbœuf da?«
Sie musterte ihn mißtrauisch von Kopf bis Fuß.
»Der Vater oder der Sohn?«
»Der Vater.«
»Sie sind doch sicher von der Polizei? Dann sollten Sie eigentlich wissen, daß er um diese Zeit schläft, weil er Nachtwächter ist und nie vor sieben Uhr morgens nach Hause kommt. Also bitte, wenn Sie hinauf gehen wollen …«
»Nicht nötig. Und der Sohn?«
»Der ist vor zehn Minuten zur Arbeit gegangen.«
In der Küche hörte man einen Löffel zu Boden fallen. Maigret sah den Kopf eines Kindes.
»Das ist nicht zufällig …« begann er.
»Ja, das ist der Sohn unserer armen Mademoiselle Germaine. Jetzt aber rein oder raus, das ganze Haus wird kalt!«
Der Kommissar trat ein. Die Wände des Korridors waren in einem Marmormuster gestrichen. Die Küche war unaufgeräumt, und die Frau brummte unverständliche Worte, während sie Eimer und Schrubber zur Seite räumte. Auf dem Tisch standen schmutzige Teller und Tassen. Ein Junge von zweieinhalb Jahren saß allein d a vor, aß ungeschickt ein weichgekochtes Ei und bekle c kerte sich dabei mit Eigelb.
Die Frau war um die vierzig. Sie war hager und hatte ein ausgemergeltes Gesicht.
»Ziehen Sie das Kind auf?«
»Ja. Seit sie seine Mutter umgebracht haben, kümmere ich mich die meiste Zeit um ihn. Der Großvater braucht vormittags seinen Schlaf, und sonst gibt es ni e manden hier im Haus. Wenn ich zu einer Patientin g e rufen werde, muß ich ihn einer Nachbarin anvertrauen.«
»Patientin?«
»Ich bin staatlich geprüfte Hebamme.«
Sie hatte ihre karierte Schürze ausgezogen, als ob diese ihr etwas von ihrer Würde nähme.
»Hab keine Angst, mein kleiner Jojo!« sagte sie zu dem Kind, das den Besucher ansah und zu essen aufgehört hatte.
Ähnelte es Joseph Peeters? Das war schwer zu sagen. Jedenfalls war es ein schwächliches Kind. Es hatte unregelmäßige Züge, einen zu großen Kopf, einen mageren Hals und vor allem einen schmalen und langgezogenen Mund, der wie der Mund eines Zehnjährigen aussah.
Das Kind ließ Maigret nicht aus den Augen, aber sein Blick war ausdruckslos. Es zeigte auch keine Regung, als die Hebamme es vielleicht ein bißchen zu theatralisch in die Arme nahm und ausrief:
»Das arme Hascherl! Iß dein Ei, mein Schatz!«
Sie hatte Maigret keinen Stuhl angeboten. Auf dem Fußboden waren Wasserlachen, und auf dem Herd stand ein Topf mit Suppe.
»Sie sind sicher der aus Paris.«
Die Stimme war noch nicht aggressiv, aber auch alles andere als liebenswürdig.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Hier hat es keinen Zweck, geheimnisvoll zu tun. Hier weiß jeder Bescheid!«
»Sprechen Sie sich aus!«
»Sie wissen das doch genau so gut wie ich! Eine sch ö ne Aufgabe haben Sie da übernommen! Aber die Polizei war immer schon auf der Seite der Reichen, nicht wahr?«
Maigret hatte die Stirn gerunzelt, nicht wegen dieser absurden Vorwürfe, sondern wegen der Einstellung, die diese Worte verrieten.
»Die Flamen selbst haben doch jedem erzählt, daß man ihnen zwar im Moment noch Scherereien machen könne, aber nicht für lange, und daß die Dinge sich ä n dern würden, sobald irgend so ein Kommissar aus Paris ankäme!«
Sie lächelte böse.
»In der Tat! Man hat ihnen ja reichlich Zeit gelassen, ihre Lügenmärchen
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