Maigret bei den Flamen
Machère damit beschäftigt, ein Stück Boden zu untersuchen, wo die Erde weniger fest als anderswo war.
»Etwas Neues?« fragte der Kommissar.
»Ich weiß nicht! Ich suche immer noch die Leiche. Solange wir die nicht haben, werden wir auch diese Le u te hier nicht zu fassen bekommen.«
Und er wandte sich zur Maas, als wollte er sagen, dort sei die Leiche jedenfalls nicht verschwunden.
4
Das Porträt
E
s war kurz nach Mittag. Maigret ging vielleicht schon zum vierten Male seit dem Morgen am Ufer entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite der Maas erhob sich eine große, gekalkte Fabrikmauer mit einem Tor, aus dem Dutzende von Arbeitern und Arbeiterinnen zu Fuß oder mit dem Fahrrad heraus kamen.
Die Begegnung fand hundert Meter vor der Brücke statt. Der Kommissar blickte einem jungen Mann, der ihm entgegenkam, kurz ins Gesicht, und als er sich a n schließend noch einmal umdrehte, bemerkte er, daß auch der andere zurückblickte.
Das war der Mann, dessen Porträt er zwischen Annas Wäsche gefunden hatte.
Ein kurzes Zögern. Der junge Mann ging als erster einen Schritt auf Maigret zu.
»Sind Sie vielleicht der Polizist aus Paris?«
»Gérard Piedbœuf , nehme ich an?«
Der Polizist aus Paris. Es war das fünfte oder sechste Mal seit dem Morgen, daß jemand ihn so nannte. Und er verstand sehr wohl den Unterton. Sein Kollege Machère aus Nancy war hier, um die Untersuchung durc h zuführen, nichts weiter. Man sah ihn kommen und gehen, und wenn man etwas zu wissen glaubte, lief man hin und sagte es ihm.
Maigret hingegen war »der Polizist aus Paris«, der Beauftragte der Flamen, der ausschließlich zu dem Zweck hergekommen war, sie von jedem Verdacht reinzuwaschen. Und auf der Straße sahen ihm die Leute, die ihn bereits kannten, mit Blicken nach, die nicht die mind e ste Sympathie verrieten.
»Waren Sie bei uns zu Hause?«
»Ich war heute morgen sehr früh da, und ich habe nur Ihren kleinen Neffen gesehen.«
Gérard war nicht mehr ganz so jung wie auf dem Porträt. Wenn seine Statur auch noch sehr jugendlich war und ebenso seine Art, sich zu frisieren und zu kleiden, so konnte man von nahem doch erkennen, daß er die Fünfundzwanzig bereits überschritten hatte.
»Haben Sie mir etwas zu sagen?«
Unter Schüchternheit litt er jedenfalls nicht. Kein einziges Mal wandte er den Blick ab. Er hatte braune, leuchtende Augen, die den Frauen ebenso gefallen mußten wie sein matter Teint und der feine Schwung seiner Lippen.
»Nun, ich habe meine Untersuchung eben erst begonnen …«
»Im Auftrage der Peeters, ich weiß! Die ganze Stadt weiß es! Man hat es schon vor Ihrer Ankunft gewußt … Sie sind ein Freund der Familie, und Sie machen sich stark …«
»… für gar nichts! Ah, Ihr Vater steht auf …«
Sie blickten auf das kleine Haus. Im ersten Stock wurde das Rollo hochgezogen, und man erkannte undeutlich die Silhouette eines Mannes mit einem großen grauen Schnurrbart, der heraus schaute.
»Er hat uns gesehen«, sagte Gérard. »Er wird sich anziehen und herunter kommen.«
»Kennen Sie die Peeters persönlich?«
Sie gingen den Kai entlang und kehrten jedesmal um, wenn sie an einen Poller kamen, der noch hundert M e ter von dem Lebensmittelladen entfernt war. Die Luft war frisch. Gérard trug einen viel zu dünnen Mantel, dessen eng taillierter Schnitt ihm aber wohl gefiel.
»Wie meinen Sie das?«
»Seit drei Jahren ist Ihre Schwester die Geliebte von Joseph Peeters. Ging sie jeweils zu ihm?«
Gérard zuckte mit den Schultern.
»Wenn man das in allen Einzelheiten wieder aufrollen wollte! Zuerst, kurz vor der Geburt des Kindes, hatte J o seph geschworen, daß er sie heiraten würde … Dann ist Dr. van de Weert gekommen und hat meiner Schwester im Auftrage der Peeters zehntausend Francs dafür geboten, daß sie das Land verläßt und nie mehr zurüc k kommt … Als Germaine nach der Geburt zum ersten Mal das Haus ve r lassen konnte, ist sie gleich zu den Peeters gegangen, um ihnen das Kind zu zeigen. Es gab eine fürchterliche Szene, denn man wollte sie nicht hereinlassen, und die Alte kanzelte sie ab wie ein Straßenmä d chen. Dann ist Gras über die Sache gewachsen. Joseph versprach immer noch, sie zu heiraten. Aber erst wollte er sein Studium beenden …«
»Und Sie?«
»Ich?«
Zuerst tat er so, als hätte er nicht verstanden. Dann aber änderte er rasch seine Meinung, und ein spöttisches und eingebildetes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Hat man Ihnen irgendetwas
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