Maigret bei den Flamen
fallen.
»Wo standen Sie?« fragte der Kommissar.
Er kannte das Zollgebäude und sah, wie Cassin sich in eine Ecke drückte.
»Und dort sind Sie stehengeblieben, ohne sich zu rühren?«
»Na klar. Ich wollte mit dieser Geschichte nichts zu tun haben!«
»Lassen Sie mich mal dahin!«
Er stellte sich dort nur einige Sekunden lang hin und sagte dem Mann dann ins Gesicht:
»Da müssen Sie sich schon etwas anderes einfallen la s sen, mein Freund!«
»Etwas anderes – wieso?«
»Weil an Ihrer Geschichte nichts dran ist. Von hier aus können Sie weder den Lebensmittelladen noch die Flußstelle zwischen den beiden Schiffen sehen.«
»Also wenn ich gesagt habe, daß ich hier stand, dann meine ich natürlich …«
»Schluß jetzt! Das reicht! Ich sage es Ihnen noch einmal: Sie müssen sich etwas anderes ausdenken! Kommen Sie wieder zu mir, wenn Sie soweit sind. Aber wenn das dann wieder nichts taugt, Freundchen, dann könnte es vielleicht notwendig sein, Sie noch einmal hinter Schloß und Riegel zu bringen …«
Machère traute seinen Ohren nicht. Beschämt, auf Cassin hereingefallen zu sein, hatte er sich seinerseits an den Schuppen gelehnt und überprüfte die Feststellungen des Kommissars.
»In der Tat!« brummte er.
Der Schiffer hingegen versuchte erst gar nicht, etwas zu entgegnen. Er hatte den Kopf gesenkt, und man ahnte, daß er mit einem ironischen und bösen Blick auf Maigrets Füße starrte.
»Vergiß nicht, was ich dir gerade gesagt habe: eine andere Geschichte, und diesmal eine glaubwürdigere … Sonst geht’s ab ins Gefängnis! Kommen Sie, Machère.«
Und Maigret drehte sich auf dem Absatz um, stopfte seine Pfeife und ging zur Brücke zurück.
»Glauben Sie, daß Cassin …?«
»Ich nehme an, daß er uns heute abend oder morgen einen neuen Beweis für die Schuld der Peeters anbringen wird …«
Inspektor Machère kam nicht mehr mit.
»Ich verstehe gar nichts mehr … Wenn er einen Beweis hat …«
»Er wird todsicher einen haben …«
»Aber wie?«
»Wie soll ich das wissen? Er wird schon etwas finden …«
»Um sich selbst reinzuwaschen?«
Aber der Kommissar ließ das Thema fallen und murmelte:
»Haben Sie Feuer? Zwanzig Streichhölzer habe ich schon weggeworfen …«
»Ich rauche nicht.«
Und Machère war sich nicht ganz sicher zu hören:
»Hätte ich mir gleich denken können …«
5
Maigrets Abend
G
egen Mittag hatte es angefangen zu regnen. Bei Anbruch der Dunkelheit prasselte der Regen nur so auf das Pflaster. Abends um acht sah es aus wie bei der Sintflut.
Die Straßen von Givet waren leergefegt. Neben dem Kai glänzten die Kähne. Maigret hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und stapfte auf das Haus der Fl a men zu. Er stieß die Tür auf, so daß die Ladenglocke läutete, die ihm nun schon vertraut war, und atmete den warmen Dunst des Ladens ein.
Es war die gleiche Zeit, um die Germaine Piedbœuf am 3 . Januar den Laden betreten hatte und danach nie wieder gesehen worden war.
Der Kommissar bemerkte zum ersten Mal, daß die Küche nur durch eine Glastür vom Laden getrennt war. Diese Tür war mit einer Tüllgardine bespannt, so daß man die Umrisse der Personen im andern Raum undeu t lich wahrnahm.
Jemand erhob sich.
»Lassen Sie sich nicht stören!« rief Maigret.
Er betrat die Küche und lernte so unangemeldet den Alltag der Peeters kennen. Madame Peeters war es, die sich erhoben hatte, um in den Laden zu eilen.
Ihr Mann saß in dem Korbsessel, wieder so dicht am Ofen, daß man befürchten mußte, er könnte Feuer fangen. In der Hand hielt er eine Meerschaumpfeife mit einem langen Holm aus Wildkirschholz. Aber er rauchte nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen. Er atmete stoßweise mit halboffenem Mund.
Anna saß vor dem mit Sand blankgescheuerten Holztisch, dessen Ecken und Kanten mit den Jahren glänzend geworden waren. Sie addierte Zahlenkolonnen in einer kleinen Kladde.
»Führ den Herrn Kommissar in das Eßzimmer, Anna!«
»Aber nein«, protestierte Maigret, »ich bin nur auf einen Sprung hereingekommen und gehe gleich wieder.«
»Geben Sie mir Ihren Mantel …«
Und Maigret wurde gewahr, daß Madame Peeters eine angenehm tiefe, volle und herzliche Stimme hatte, die durch einen leichten flämischen Akzent noch an Ausdruckskraft gewann.
»Aber Sie nehmen doch eine Tasse Kaffee?«
Er hätte gern gewußt, was sie gerade gemacht hatte, bevor er gekommen war. An ihrem Platz sah er eine Nickelbrille und die Tageszeitung liegen.
Der Atem des Alten
Weitere Kostenlose Bücher