Maigret bei den Flamen
Maigret hier noch zu suchen? Hier gab es nichts zu erfahren. Madame Peeters hörte zu und blickte dabei auf ihre Zeitung, wagte aber nicht, sie wieder zu nehmen. Anna fing nach und nach an, mit der linken Hand die Begleitung zu spielen. Und hier, an diesem Tisch, pflegte Maria sicherlich die Arbeiten ihrer Schül e rinnen zu korrigieren.
Und das war alles.
Außer daß die ganze Stadt die Peeters beschuldigte, an einem solchen Abend Germaine Piedbœuf umgebracht zu haben!
Maigret fuhr auf, als er die Glocke des Ladens hörte. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, drei Wochen früher gekommen zu sein und mitzuerleben, wie Josephs Geliebte hereinkam und ihre hundert Francs verlangte, den Unterhalt, den man ihr jeden Monat für das Kind zahlte.
Aber es war nur ein Schiffer im Ölzeug, der eine kleine Flasche mitgebracht hatte und sie sich von Madame Peeters mit Genever füllen ließ.
»Acht Francs!«
»Belgische?«
»Französische. Zehn belgische Francs.«
Maigret erhob sich und ging durch den Laden.
»Sie gehen schon?«
»Ich komme morgen wieder.«
Draußen sah er, wie der Schiffer zu seinem Kahn zurückkehrte. Er drehte sich noch einmal nach dem Haus um. Mit seinem erleuchteten Schaufenster sah es wie eine Theaterkulisse aus, vor allem wegen der Musik, die noch immer weich und sentimental heraus strömte.
Und mischte sich nicht auch Annas Stimme hinein?
Mein holder Verlobter,
gewiß, du wirst mein …
Maigret stapfte durch den Dreck, und der Regen war so stark, daß ihm die Pfeife ausging.
Ganz Givet kam ihm nun wie eine Theaterdekoration vor. Nachdem auch der Schiffer an Deck verschwunden war, gab es hier draußen keine Menschenseele mehr.
Nur die gedämpften Lichter hinter einigen Fenstern. Und die Maas, die mit ihrem Rauschen die Musik des Klaviers immer mehr übertönte.
Als er zweihundert Meter gegangen war, konnte er gleichzeitig im Hintergrund der Dekoration das Haus der Flamen und im Vordergrund das andere Haus, das der Piedbœufs, erkennen.
Im ersten Stock war es dunkel. Aber im Flur brannte Licht. Die Hebamme war jetzt mit dem Kind allein.
Maigret war schlecht gelaunt. Es geschah nicht oft, daß er so deutlich das Gefühl hatte, seine Bemühungen seien nutzlos.
Was hatte er hier eigentlich zu suchen? Er war nicht in dienstlichem Auftrag hier! Gewiß, die Leute beschuldigten die Flamen, eine junge Frau umgebracht zu h a ben. Aber stand denn überhaupt fest, daß Germaine Piedbœuf wir k lich tot war?
Vielleicht hatte sie auch nur ihr ärmliches Leben in Givet satt gehabt und saß jetzt in Brüssel, in Reims, in Nancy oder in Paris mit irgendeiner Zufallsbekanntschaft in einer Brasserie?
Und selbst wenn sie tot war – hatte man sie umgebracht? Oder konnte sie nicht auch, als sie den Leben s mittelladen niedergeschlagen und entmutigt verließ, von den bräunlichen Fluten der Maas angezogen worden sein?
Keinerlei Beweis! Keinerlei Indiz! Selbst Machère, der allem auf den Grund ging, würde nichts finden, so daß die Staatsanwaltschaft den Fall voraussichtlich über kurz oder lang würde zu den Akten legen müssen.
Warum also ließ Maigret sich hier in dieser trostlosen Gegend bis auf die Haut naßregnen?
Genau gegenüber, am anderen Ufer der Maas, sah er die Fabrik, deren Innenhof nur von einer einzigen La m pe beleuchtet wurde. Gleich neben dem Tor war ein Pförtnerhäuschen, in dem ebenfalls Licht brannte.
Der alte Piedbœuf hatte seinen Dienst aufgenommen. Was machte er dort, die ganze Nacht hindurch?
Ohne recht zu wissen warum, ging der Kommissar auf die Brücke zu, die Hände tief in den Manteltaschen. In dem Café, in dem er am Morgen einen Grog getrunken hatte, unterhielten sich ein Dutzend Schiffer und Besitzer von Schleppern so laut, daß man sie vom Kai aus hören konnte. Aber Maigret stapfte weiter.
Der Sturm ließ die Stahlträger der neuen Brücke erzi t tern, welche die im Krieg zerstörte Steinbrücke erset z te.
Auf der anderen Seite war der Uferweg nicht einmal gepflastert. Man mußte durch den Matsch stapfen. Ein streunender Hund drückte sich an der gekalkten Mauer entlang.
In dem geschlossenen Fabriktor befand sich eine kle i ne Tür. Und sogleich bemerkte Maigret den alten Piedbœuf, der sein Gesicht an die Scheibe des Pförtnerhä u schens drückte.
»Guten Abend!«
Der Mann trug eine alte Militärjacke, die er sich hatte schwarz färben lassen. Auch er rauchte Pfeife. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Ofen, dessen Rohr nach zwei
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