Maigret bei den Flamen
Krümmungen in der Wand verschwand.
»Sie wissen, daß es nicht erlaubt ist …«
»… nachts hereinzukommen! Schon gut!«
Eine Holzbank. Ein Stuhl mit geflochtenem Sitz. Maigrets Mantel begann schon zu dampfen.
»Bleiben Sie die ganze Nacht hier in diesem Raum?«
»Ich bitte Sie! Ich muß drei Runden durch die Innenhöfe und durch alle Fabrikgebäude machen!«
Von weitem wirkte sein großer grauer Schnurrbart imposant. Bei näherem Hinsehen entpuppte Piedbœuf sich jedoch als ein scheuer, in sich zurückgezogener Mann, der sich seiner niederen Stellung nur zu bewußt war. Maigret beeindruckte ihn. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
»Im großen und ganzen leben Sie also immer allein: nachts hier, vormittags in Ihrem Bett – und nachmittags?«
»… arbeite ich im Garten.«
»Dem der Hebamme?«
»Ja. Wir teilen uns das Gemüse …«
Maigret bemerkte etwas Rundes in der Asche. Er stocherte mit dem Ende des Schürhakens darin herum , entdeckte ungeschälte Kartoffeln und verstand. Er stellte sich vor, wie der Mann ganz allein, mitten in der Nacht, seine Kartoffeln aß und ins Leere blickte.
»Kommt Ihr Sohn Sie nie in der Fabrik besuchen?«
»Nein.«
Auch hier fielen draußen vor der Tür vereinzelte Regentropfen zur Erde und verliehen dem Leben einen u n regelmäßigen Rhythmus.
»Glauben Sie wirklich, daß Ihre Tochter ermordet worden ist?«
Der Mann antwortete nicht sofort. Er wußte nicht, wohin er blicken sollte.
»Von dem Moment an, als Gérard …«
Und plötzlich, mit einem erstickten Schluchzen:
»Sie hätte sich nie umgebracht. Sie wäre auch nicht fortgelaufen …«
Seine Hilflosigkeit hatte etwas unerwartet Tragisches. Er stopfte mechanisch seine Pfeife.
»Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß diese Leute …«
»Kannten Sie Joseph Peeters gut?«
Piedbœuf wandte den Kopf zur Seite.
»Ich wußte, daß er sie nicht heiraten würde. Das sind reiche Leute. Und wir …«
An der Mauer hing eine chromblitzende elektrische Uhr, der einzige Luxus dieser winzigen Klause. Gegenüber eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: Keine Einstellungen. Anfragen zwecklos.
In der Nähe der Tür dann eine komplizierte Stechuhr, an der jeder Arbeiter beim Betreten und Verlassen des Fabrikgeländes seine Karte abstempeln mußte.
»Es ist jetzt Zeit für den Rundgang …«
Maigret hätte fast vorgeschlagen, die Runde mit ihm gemeinsam zu machen, um noch tiefer in das Leben dieses Mannes einzudringen. Piedbœuf zog einen unförm i gen Ölmantel über, der ihm bis zu den Hacken ging, und nahm aus einer Ecke eine bereits angezündete Sturmlaterne, bei der er nur noch den Docht hochzudrehen brauc h te.
»Ich verstehe nicht, warum Sie gegen uns sind. Aber vielleicht ist das ganz natürlich. Gérard sagt, daß …«
Aber der Regen unterbrach sie, denn sie standen jetzt auf dem Hof. Piedbœuf begleitete seinen Gast bis zum Tor, das er wieder hinter ihm abschließen würde, bevor er seine Runde begann.
Die Gitterstäbe des Fabriktors teilten die Landschaft in gleichgroße Abschnitte auf: die Lastkähne, die am anderen Ufer des Flusses festgemacht waren, das Haus der Flamen mit dem erleuchteten Schaufenster, der Kai, auf den die Straßenlaternen in Abständen von fünfzig Metern Lichtkreise zeichneten.
Man erkannte deutlich das Zollgebäude, das Café des Mariniers …
Man sah vor allem die Ecke der kleinen Gasse, in der das zweite Haus links das der Piedbœufs war.
Am 3 . Januar …
»Ist Ihre Frau schon lange tot?«
»Nächsten Monat sind es zwölf Jahre. Sie hatte es auf der Lunge …«
»Was macht Gérard jetzt um diese Zeit?«
Die Laterne pendelte am ausgestreckten Arm des Nachtwächters. Er hatte schon den großen Schlüssel in das Schloß gesteckt. In der Ferne pfiff ein Zug.
»Er ist sicher in der Stadt …«
»Wissen Sie zufällig, wo?«
»Die jungen Leute treffen sich meistens im Café de la Mairie.«
Und Maigret verschwand erneut im Regen und in der Dunkelheit. Dies waren keine Ermittlungen. Maigret hatte weder irgendwelche Anhaltspunkte noch irgende i ne Grundlage.
Bisher war er nur einer Handvoll Menschen begegnet, von denen ein jeder sein eigenes Leben lebte, hier in di e ser kleinen Stadt, über die der Wind hinwegfegte.
Vielleicht waren sie alle grundehrliche Leute? Vielleicht verbarg sich unter ihnen aber auch eine verzweifelte Seele, schlotternd vor Angst bei dem Gedanken an die tiefschwarze Silhouette, die in dieser Nacht durch die Straßen
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