Maigret bei den Flamen
der Schmerz …«
»Komm, Gérard, wir gehen!« flüsterte das Mädchen, das neben dem jungen Mann saß, erschreckt.
»Damit er denkt, ich hätte Angst vor ihm?«
Er drehte Maigret noch immer den Rücken zu. Beide sahen einander nur im Spiegel.
Die anderen Gäste spielten nur noch zum Schein weiter und vergaßen, ihre Punkte auf die Schiefertafeln zu schreiben.
»Einen Kognak, Garçon! Bedienung!«
Der Wirt war nahe daran , Gérard nicht mehr zu bedienen, traute sich dann aber doch nicht, zumal Maigret immer noch so tat, als bemerkte er nichts.
»Eine Mordsschweinerei! Genau das ist es! Diese Leute schnappen sich unsere Mädchen, und wenn sie i r gendwann die Nase voll haben, dann bringen sie sie ei n fach um. Und die Polizei …«
Der Kommissar stellte sich den alten Piedbœuf vor, wie er in seiner gefärbten Uniformjacke seine Runde durch die Fabrikhallen machte, sich mit einer Sturmlaterne voranleuchtete und dann in seine warme Ecke z u rückkehrte, um seine Pellkartoffeln zu essen.
Gegenüber, im Haus der Piedbœuf s, hatte die Hebamme sicher das Kind schon ins Bett gebracht und las jetzt Zeitung oder strickte, bis es Zeit war, schlafen zu gehen …
Dann, weiter draußen, der Lebensmittelladen der Flamen, der alte Peeters, den man weckte und in sein Zimmer führte, Madame Peeters, die die Läden herunter ließ, Anna, die sich, ganz allein in ihrem Zimmer, auszog …
Und die Lastkähne, die vor sich hinträumten, während der Strom an den Haltetauen zerrte, die Ruder stöhnen ließ und die Beiboote gegeneinanderschlug …
»Noch ein Halbes!«
Maigrets Stimme war ruhig. Er rauchte bedächtig und stieß kleine Wölkchen zur Decke hoch.
»Seht euch doch bloß mal an, wie der sich aufbläst! Der provoziert mich doch …«
Der Wirt war mit den Nerven am Ende und wußte nicht mehr, was er tun sollte. Der Skandal war nicht mehr aufzuhalten. Denn bei den letzten Worten hatte Gérard sich erhoben und stand nun Maigret gegenüber. Sein Gesicht war verzerrt, und seine Lippen waren vor Wut z u sammengekniffen.
»Ich sage euch, der ist nur hierhergekommen, um uns zu provozieren! Seht ihn euch doch bloß an! Er meint, er könnte uns für dumm verkaufen, nur weil ich schon e t was getrunken habe. Oder vielmehr, weil wir kein Geld haben …«
Der Kommissar rührte sich nicht. Es war unglaublich! Maigret blieb ebenso kühl und unbeweglich wie die Marmorplatte seines Tisches. Er hatte die Hand an se i nem Glas. Und er rauchte noch immer.
»Karo Trumpf!« sagte jemand, der die Atmosphäre entspannen wollte.
Aber da fegte Gérard ihm die Karten vom Tisch und schleuderte sie quer durch den Raum.
Im gleichen Augenblick war die Hälfte der Gäste aufgesprungen. Sie wagten nicht, näher zu kommen, waren aber bereit, sofort einzugreifen.
Maigret blieb sitzen. Maigret rauchte.
»Seht ihn euch doch bloß an! Er provoziert uns! Er weiß doch genau, daß meine Schwester ermordet worden ist …«
Der Wirt wußte nicht mehr ein noch aus. Die beiden Mädchen, die mit Gérard am Tisch gesessen hatten, sahen sich bestürzt an und versuchten die Entfernung zu schätzen, die sie noch von der Tür trennte.
»Er traut sich nicht, etwas zu sagen! Seht doch, er wagt den Mund nicht aufzumachen! Angst hat er! Ja, Angst, daß man die Wahrheit ans Licht bringen könnte!«
»Ich schwöre Ihnen, er hat zuviel getrunken!« rief der Wirt dazwischen, als er sah, daß Maigret sich erhob.
Zu spät! Von allen hatte sicher Gérard selbst die meiste Angst.
Diese dunkle und regennasse Masse, die sich auf ihn zuschob …
Mit einer plötzlichen Bewegung fuhr seine rechte Hand in seine Tasche, und im gleichen Augenblick schrie eine Frau laut auf.
Es war ein Revolver, den der junge Mann hochreißen wollte. Aber die Hand des Kommissars hatte schon zugestoßen und die Waffe gepackt. Gleichzeitig schoß sein Fuß nach vorn und brachte Gérard ins Stolpern.
Die wenigsten Gäste hatten begriffen, was passiert war. Und dennoch waren alle aufgesprungen. Der Revolver war in Maigrets Hand. Gérard rappelte sich mit haßerfüllter Miene wieder auf, beschämt über seine Niederlage.
Und während der Kommissar die Waffe mit einer ebenso ruhigen wie selbstverständlichen Geste in seine Tasche steckte, keuchte der junge Mann:
»Jetzt verhaften Sie mich, ja?«
Er stand noch nicht wieder und mußte beide Hände zu Hilfe nehmen, um hochzukommen. Er bot einen jämmerlichen Anblick.
»Geh ins Bett!« sagte Maigret langsam.
Und da der andere ihn nicht zu
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