Maigret bei den Flamen
leuchtet.
»Jedenfalls sollte Mademoiselle Marguerite ja wohl i h ren Kusin heiraten.«
Seine Miene verfinsterte sich kaum merklich.
»Früher oder später, ja, natürlich! Ohne diesen unschönen Zwischenfall …«
Für ihn war das nichts weiter als unschön!
»Leute, die nicht verstehen wollen, daß es das Beste gewesen wäre, eine kleine Rente für den Unterhalt des Kindes anzunehmen und nach Möglichkeit in eine andere Stadt zu ziehen … Ich glaube, es ist vor allem der Bruder, der so uneinsichtig ist …«
Man konnte ihm nicht einmal böse sein! Er meinte es ehrlich. Er war naiv vor lauter Aufrichtigkeit!
»Abgesehen davon ist noch längst nicht bewiesen, daß das Kind von Joseph ist … Es wäre außerdem viel besser in einem Sanatorium aufgehoben, zusammen mit seiner Mutter …«
»Kurzum, Ihre Tochter wartete …«
Van de Weert lächelte.
»Sie liebt ihn, seit sie vierzehn oder fünfzehn ist. Ist das nicht rührend? Und hätte ich dagegen sein sollen? … Haben Sie Feuer? … Also, wenn Sie mich fragen, ich glaube überhaupt nicht an eine Tragödie … Dieses junge Mädchen, das immer schon den Männern nachgela u fen ist, wird irgendwo einen neuen Freund gefunden haben und mit ihm auf und davon sein. Und ihr Bruder macht sich das zunutze und versucht, Geld aus der G e schichte heraus zuschlagen …«
Er fragte gar nicht erst nach Maigrets Ansicht. Er war sicher, daß seine Überzeugung die richtige war. Mit einem Ohr horchte er auf die gedämpften Geräusche aus dem Wartezimmer, in dem die Patienten langsam ung e duldig werden mußten.
Ganz ruhig und mit dem gleichen unschuldigen Blick wie sein Gegenüber stellte der Kommissar eine letzte Fr a ge:
»Glauben Sie, daß Mademoiselle Marguerite die Geliebte ihres Kusins ist?«
Van de Weert war möglicherweise nahe daran , böse zu werden. Sein Gesicht lief rot an. Was ihn aber schließlich überwältigte, war Enttäuschung und Trauer über so viel Unverständnis.
»Marguerite? Sie sind verrückt! Wer hat denn das erfunden? Marguerite und … Marguerite die … die …«
Und Maigret, der schon den Türknauf in der Hand hielt, ging hinaus und lächelte nicht einmal. Das Haus roch nach Apotheke und nach Küche zugleich. Das Mädchen, das den nächsten Patienten hereinbat, sah so frisch und sauber aus, als hätte sie gerade erst ein heißes Bad genommen.
Draußen aber gab es wieder nur Regen und Matsch, und die Lastwagen bespritzten im Vorüberfahren die Gehsteige.
Es war Samstag. Joseph Peeters würde am Nachmittag ankommen und das Wochenende in Givet verbringen. Im Café des Mariniers diskutierte man leidenschaftlich, weil die Straßenbauverwaltung bekanntgegeben hatte, daß die Schiffahrt von der Grenze bis nach Maastricht wieder freigegeben war.
Allerdings verlangten die Schlepper jetzt wegen der starken Strömung nicht zehn, sondern fünfzehn Francs pro Kilometer und Tonne. Außerdem hatte man erfahren, daß ein Bogen der Brücke von Namur durch einen mit Steinen beladenen Lastkahn blockiert war, der sich vom Ufer losgerissen und quer vor die Brückenpfeiler gelegt hatte.
»Hat es Tote gegeben?« fragte Maigret.
»Die Frau des Schiffers und ihr Sohn. Der Schiffer selbst, der gerade im Bistro gesessen hatte, kam erst zu seinem Liegeplatz zurück, als es schon passiert war.«
Gérard Piedbœuf fuhr mit dem Fahrrad vorbei, auf dem Heimweg vom Büro der Fabrik. Und einige Augenblicke später kehrte Machère vom Haus der Flamen zurück, denen er die Neuigkeit mitgeteilt hatte, läutete an der Tür der Piedbœufs und stand der Hebamme g e genüber, die ihn säuerlich empfing.
»Was war das eigentlich für eine Geschichte mit deinem Sittlichkeitsdelikt?«
An Bord der meisten Schleppkähne ist der Wohnraum so sauber und aufgeräumt, wie man es an Land selten vorfindet. Aber auf der »Etoile Polaire« war es a n ders.
Der Schiffer war unverheiratet. Ihm ging ein Junge zur Hand, der an die zwanzig sein mochte, nicht eben der Klügste war und ab und zu einen epileptischen Anfall bekam.
Die Kajüte roch nach Kaserne. Der Mann aß gerade Wurst und Brot und trank dazu einen Liter Rotwein.
Er war weniger betrunken als gewöhnlich. Er blickte Maigret mißtrauisch an, und es dauerte recht lange, bis er mit der Sprache heraus rückte.
»Das war überhaupt keine Vergewaltigung … Ich hatte schon zwei- oder dreimal mit dem Mädchen geschlafen. Eines Abends bin ich ihr unterwegs begegnet, aber sie wollte nicht – angeblich, weil ich getrunken
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