Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
Herren Länder.
Der Kommissar erhob sich und betrat das angrenzende Zimmer der Zofe Elise Chatrier. Er öffnete einen Schrank, sah lauter schwarze Kleider aus Seide oder Baumwolle in Reih und Glied an ihren Bügeln hängen.
Er horchte auf die Geräusche, die von der Straße heraufdrangen, und seufzte erleichtert, als er zwei Wagen fast gleichzeitig vor dem Gartentor anhalten hörte. Dann vernahm er Stimmen im Park. In seinem wie immer hektischen Ton, dem etwas Schrilles anhaftete, sagte Monsieur Coméliau:
»Es ist einfach unbegreiflich … unentschuldbar …«
Maigret wartete oben auf der Treppe wie ein Gastgeber, der seine Besucher willkommen heißt.
»Geradeaus und die Treppe hoch!« rief er, als unten die Haustür aufging.
Noch Jahre später würde er sich an den Augenblick erinnern, da der Richter plötzlich vor ihm auftauchte, ihn mit wutentbranntem Blick und vor Entrüstung zitternden Lippen anstarrte und endlich hervorstieß:
»Ich erwarte Ihre Erklärungen, Kommissar …«
Maigret drehte sich wortlos um, führte ihn die Hintertreppe hinauf und durch die Zimmerflucht im zweiten Stock.
»Da …«
»Sie haben ihn hierherbestellt!«
»Ich wußte nicht einmal, daß er hier war. Ich wollte mir bloß Gewißheit verschaffen, daß wir kein wichtiges Indiz übersehen hatten.«
»Wo war er?«
»Im Zimmer seiner Tante vermutlich … Er ergriff die Flucht. Ich verfolgte ihn. Er rannte in dieses Zimmer und erschoß sich, als ich die Tür eindrückte.«
Der Richter machte ein Gesicht, als hielte er Maigrets Geschichte für erlogen. In Wirklichkeit war es seine Furcht vor Komplikationen, die jetzt seine Züge verzerrte.
Der Polizeiarzt untersuchte die Leiche. Die Fotoapparate klickten.
»Was ist mit Heurtin?« fragte Coméliau barsch.
»Der wandert wieder in die Santé, sobald Sie es wünschen …«
»Sie haben ihn gefunden?«
Maigret zuckte die Schultern.
»Also dann sofort, ja?«
»Zu Befehl, Herr Richter.«
»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?«
»Vorläufig ja.«
»Sie glauben nach wie vor, daß –«
»Daß Heurtin nicht der Mörder ist? Keine Ahnung! Ich bat Sie um eine Frist von zehn Tagen. Heute ist erst der vierte …«
»Wohin gehen Sie jetzt?«
»Das weiß ich noch nicht …«
Maigret vergrub die Hände tief in die Taschen seines Überziehers, beobachtete eine Weile das Kommen und Gehen der Gerichtsbeamten, stapfte unvermittelt die Treppe hinunter in Madame Hendersons Schlafzimmer und nahm den Hörer von der Gabel.
»Hallo! … Hôtel George-V? … Hallo! Ist Madame Crosby dort, bitte? … Wie? Im Teesalon? … Ich danke Ihnen … Nein, bestellen Sie ihr nichts.«
Monsieur Coméliau war ihm gefolgt. Er stand in der Tür und beobachtete ihn mit unnachgiebiger Strenge.
»Da sehen Sie, welche Komplikationen …«
Maigret setzte wortlos den Hut auf und ging mit einem trockenen Gruß. Das Taxi, das ihn hergebracht hatte, war wieder weggefahren, und er mußte bis zur Brücke von Saint-Cloud marschieren, ehe er ein anderes fand.
Gedämpfte Musik. Paare, die sich in schleppendem Rhythmus über das Parkett bewegten. Hübsche Frauen an den Tischen, Ausländerinnen vor allem. Ein anmutiges Bild im diskreten Teesalon des ›Hôtel George-V‹.
Nur widerstrebend hatte Maigret seinen Überzieher in der Garderobe abgegeben. Jetzt näherte er sich dem Tisch, an dem er Madame Crosby und Edna Reichberg erblickt hatte.
Sie befanden sich in Gesellschaft eines jungen Mannes, der skandinavisch aussah und ihnen offenbar heitere Anekdoten erzählte, denn sie lachten ununterbrochen.
»Madame Crosby …«, sagte der Kommissar mit einer leichten Verbeugung.
Verwundert blickte sie auf, dann sah sie ihre Begleiter an, und ihre ratlose Miene verriet, daß sie sich die unvermutete Störung nicht erklären konnte.
»Bitte?«
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Jetzt? … Was soll –?«
Doch sein Gesicht war so ernst, daß sie sich erhob, suchend um sich blickte.
»Gehen wir in die Bar … Um diese Zeit ist sie leer …«
Tatsächlich war dort niemand zu sehen. Sie blieben stehen.
»Wußten Sie, daß Ihr Gatte heute nachmittag nach Saint-Cloud zu fahren gedachte?«
»Ich verstehe nicht … Er ist ein freier Mensch und kann tun, was –«
»Ich frage Sie, ob er Ihnen gesagt hat, daß er einen Besuch in der Villa plante …«
»Nein.«
»Waren Sie beide einmal dort, seitdem –«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Nie! Es ist zu traurig …«
»Ihr Mann ist heute allein
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