Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes
ersten Stock aufflackerte und wieder erlosch, als zündete jemand von Zeit zu Zeit ein Streichholz an.
Es war kälter geworden. Die elektrischen Straßenlampen warfen gelbliche Lichtkegel in den Dunst.
Die Taxis, mit denen Maigret und Radek hergefahren waren, hatten rund zweihundert Meter vor der Villa angehalten, während Madame Crosbys Taxi ganz allein fast unmittelbar vor dem Gartentor stand.
Der Kommissar war ausgestiegen. Mit tief in die Manteltaschen vergrabenen Händen schritt er in der Dunkelheit auf und ab und rauchte seine Pfeife.
»Nun? Möchten Sie nicht hineingehen und sehen, was sich dort drinnen tut?«
Er antwortete nicht, setzte seinen eintönigen Spaziergang fort.
»Sie machen vielleicht einen Fehler, Kommissar. Stellen Sie sich vor, man findet heute abend oder morgen die nächste Leiche im Haus …«
Maigret reagierte nicht, und Radek warf seine halb gerauchte Zigarette fort, nachdem er sie mit den Fingernägeln aufgerissen hatte.
»Hundertmal habe ich Ihnen schon gesagt, Sie würden nie etwas begreifen. Jetzt sage ich es Ihnen nochmals.«
Der Kommissar kehrte ihm den Rücken zu. Fast eine ganze Stunde verging. Alles blieb still. Man sah nicht einmal mehr die tanzende Streichholzflamme hinter den Fenstern.
Der Chauffeur, der Madame Crosby hergefahren hatte, war beunruhigt ausgestiegen und auf das Tor zugeschritten.
»Angenommen, es befindet sich noch jemand im Haus, Kommissar?«
Darauf bedachte Maigret den Tschechen mit einem Blick, der diesen verstummen ließ.
Als gleich danach Ellen Crosby aus der Villa gelaufen kam und in den wartenden Wagen sprang, hielt sie etwas in der Hand, einen in weißes Papier oder Tuch gehüllten, zirka dreißig Zentimeter langen Gegenstand.
»Wäre es für Sie nicht interessant zu sehen, was sie …«
»Wissen Sie was, Radek?«
»Was denn …?«
Das Taxi der Amerikanerin entfernte sich in Richtung Paris. Maigret machte nicht einmal Miene, ihm zu folgen.
Der Tscheche geriet in Erregung. Seine Lippen zuckten nervös.
»Wollen wir nicht auch ins Haus gehen, Sie und ich …?«
»Aber …«
Radek sah jetzt aus wie jemand, der einen bestimmten Plan verfolgt hat und sich plötzlich vor eine unerwartete Situation gestellt sieht.
Maigret ließ eine Hand auf seine Schulter fallen.
»Zusammen werden wir alles begreifen, Sie und ich, nicht wahr?«
Radek lachte. Es klang gepreßt.
»Sie sind nicht begeistert? … Fürchten Sie, um es mit Ihren Worten zu sagen, daß Sie über die nächste Leiche stolpern? … Pah! Wer könnte es denn schon sein? … Madame Henderson ist tot und begraben. Ihre Zofe ist tot und begraben. Crosby ist tot und begraben. Seine Frau ist soeben quicklebendig aus dem Haus gekommen. Joseph Heurtin befindet sich in der Krankenabteilung der Santé, also in Sicherheit … Wer bleibt da noch? Edna? … Aber was hätte denn Edna hier zu suchen gehabt? … Gehen wir«, stieß Radek zwischen den Zähnen hervor.
»Gut. Aber dann wollen wir es gleich von Anfang an richtig machen. Um ins Haus zu gelangen, brauchen wir einen Schlüssel …«
Doch das, was der Kommissar aus der Tasche zog, war kein Schlüssel. Es war eine kleine verschnürte Pappschachtel, und es dauerte geraume Zeit, ehe er sie öffnen konnte und endlich den Hausschlüssel zum Vorschein brachte.
»So! Jetzt können wir hineinspazieren, als wären wir hier zu Hause, da ja sonst niemand da ist … Es ist doch niemand im Haus, nicht wahr?«
Wie war es zu diesem Rollentausch gekommen? Und weshalb? Radek betrachtete seinen Verfolger nicht länger mit Ironie, sondern mit einer Unruhe, die er kaum mehr zu verbergen vermochte.
»Würden Sie diese kleine Schachtel bitte in Ihre Tasche stecken? Sie wird uns womöglich noch nützlich sein …«
Maigret knipste den Lichtschalter an, klopfte seine Pfeife am Schuhabsatz aus, stopfte sie von neuem.
»Gehen wir gleich nach oben … Wie Sie sehen, hatte Madame Hendersons Mörder leichtes Spiel, genau wie wir … Zwei schlafende Frauen! Kein Hund! Kein Pförtner! Und überall Teppiche … Gehen wir!«
Der Kommissar würdigte den Tschechen keines Blickes.
»Sie hatten vollkommen recht, Radek. Es wäre eine üble Überraschung für mich, wenn wir hier eine Leiche fänden … Sie kennen Richter Coméliau gewiß vom Hörensagen. Er ist ohnehin schon wütend, weil ich Crosbys Selbstmord, der praktisch vor meinen Augen stattfand, nicht verhindert habe. Er ist überhaupt wütend auf mich, weil ich nicht imstande bin, diesen Mordfall aufzuklären
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