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Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes

Titel: Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihrer Verwirrung nicht, ob sie gehorchen oder weglaufen sollte. Doch als der Tscheche ihr einen Hundert-Franc-Schein zeigte, begann sie hastig ihre Abendblätter zu zählen.
    »Trink! … Vierzig, sagst du? Zu fünf Sous das Stück? … Wart! Möchtest du noch hundert Franc dazuverdienen?«
    Maigret sah und hörte alles, aber er saß reglos da; er schien überhaupt nicht zu bemerken, was an Radeks Tisch vorging.
    »Zweihundert Franc … Dreihundert … Da! Hier hast du sie! Oder möchtest du lieber fünfhundert? … Aber die mußt du dir verdienen. Du wirst uns was vorsingen … Halt! Hände weg! Erst wird gesungen …«
    »Was soll ich denn singen?«
    Die schwachsinnige Alte war völlig außer sich. Ein klebriger Tropfen Likör rann ihr über das Kinn mit den weißen Bartstoppeln. Die Gäste an den Nebentischen stießen sich mit den Ellbogen an.
    »Sing, was du willst. Etwas Lustiges … Und wenn du tanzt, kriegst du nochmals hundert Francs …«
    Es war entsetzlich. Die Ärmste ließ die Banknoten nicht aus den Augen. Und während sie mit brüchiger Stimme irgendein undefinierbares Liedchen zu krächzen begann, streckte sie die Hand nach dem Geld aus.
    »Aufhören!« ertönte es an den Nebentischen.
    »Sing!« befahl Radek.
    Er ließ Maigret keine Sekunde aus den Augen. Die Gäste protestierten. Ein Kellner trat auf die Frau zu, wollte sie wegjagen. Sie wehrte sich, klammerte sich an die Hoffnung, eine sagenhafte Summe zu verdienen.
    »Ich singe für diesen jungen Herrn … Er hat mir versprochen …«
    Es nahm kein gutes Ende. Ein Schutzmann trat hinzu, führte die alte Frau, die keinen Centime bekommen hatte, weg. Ein Boy lief ihr nach und gab ihr die Zeitungen zurück.
    Im Lauf der letzten drei Tage hatten sich mindestens zehn solcher Szenen abgespielt. Denn seit mittlerweile drei Tagen wich Maigret mit seinem grimmigen Gesicht dem Tschechen nicht mehr von den Fersen.
    Erst hatte Radek versucht, ihn ins Gespräch zu ziehen, und ihm wiederholt vorgeschlagen:
    »Da Sie mich auf keinen Fall allein lassen wollen, tun wir uns doch zusammen! Das wäre doch viel gemütlicher …«
    Maigret war nicht darauf eingegangen. Im ›Coupole‹ wie in allen anderen Lokalen ließ er sich stets an einem Tisch neben Radek nieder. Und auf der Straße folgte er ihm deutlich sichtbar auf Schritt und Tritt.
    Inzwischen hatte William Crosbys Begräbnis stattgefunden, und die Trauergemeinde war ein Gemisch von gegensätzlichen Welten gewesen, protzige, in Paris ansässige Amerikaner und buntscheckige Vertreter des Künstlervölkchens vom Montparnasse.
    Wie Radek vorausgesagt hatte, erschienen die beiden Frauen ganz in Schwarz. Der Tscheche selbst war dem Trauerzug mit steinernem Gesicht bis zum Friedhof gefolgt. Er hatte mit niemandem gesprochen.
    Das Leben in diesen drei Tagen war so unwirklich gewesen, daß es sich zu einem Alptraum auswuchs.
    »Sie werden trotzdem nichts begreifen«, wiederholte Radek dann und wann, indem er sich nach Maigret umdrehte. Der Kommissar stellte sich taub. Seine Ruhe blieb unerschütterlich. Zwei-, dreimal war es Radek eben noch gelungen, einen Blick von ihm aufzufangen.
    Er folgte ihm. Punktum! Er schien nichts Bestimmtes vorzuhaben, war einfach nur auf gespenstische, hartnäckige Weise Tag und Nacht da.
    Radek verbrachte seine Vormittage untätig in den Cafés. Hin und wieder kam es vor, daß er plötzlich einem Kellner befahl:
    »Rufen Sie den Geschäftsführer.«
    Und wenn dieser erschien:
    »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß der Ober, der mich bedient, schmutzige Hände hat.«
    Er bezahlte nur mit Hundert- oder Tausend-Franc-Scheinen, ließ das Wechselgeld achtlos in eine seiner Taschen gleiten.
    Im Restaurant ließ er die Speisen, die nicht nach seinem Geschmack waren, zurückgehen. Eines Tages aß er für hundertfünfzig Franc zu Mittag und erklärte danach dem Oberkellner:
    »Ein Trinkgeld kriegen Sie nicht von mir. Sie haben mich nicht aufmerksam genug bedient.«
    Und an den Abenden hockte er in Kneipen und Nachtlokalen herum, lud die Mädchen zum Trinken ein, spannte sie bis zur letzten Sekunde auf die Folter, warf plötzlich einen Tausend-Franc-Schein mitten ins Lokal und rief:
    »Den darf die glückliche Finderin behalten!«
    Darauf entbrannte ein wüster Kampf, und eine der Frauen mußte aus dem Lokal gewiesen werden, während Radek wie üblich in Maigrets Miene forschte, um zu sehen, wie die Szene auf ihn gewirkt hatte.
    Er machte keinen Versuch, sich dieser pausenlosen Überwachung zu

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