Maigret und das Verbrechen in Holland
sich einen Ruck, um nicht in Apathie zu verfallen. Sie starrte verzweifelt auf das Radio.
»Ich weiß nicht mehr … Warten Sie! … Ich glaube, Any kam aus dem Eßzimmer, weil der Zucker dort im Schrank steht.«
»War Licht an?«
»Nein. Vielleicht doch … Nein! Ich glaube nicht.«
»Haben Sie nichts miteinander geredet?«
»Doch! Ich habe gesagt: ›Conrad darf nicht mehr we i tertrinken, sonst beginnt er sich danebenzubenehmen!‹«
Maigret ging in den Flur, als die Wienands gerade die Haustür hinter sich zumachten. Die Küche war sehr hell und blitzsauber. Wasser kochte auf einem Gasherd. Any nahm den Deckel von der Teekanne.
»Sie brauchen keinen Tee zu machen.«
Sie waren allein. Any schaute ihn an.
»Warum haben Sie mich gezwungen, die Mütze au f zuheben?« fragte sie.
»Das ist unwichtig. Kommen Sie.«
Niemand redete im Wohnzimmer, niemand rührte sich.
»Wollen Sie diese Musik vielleicht bis zum Schluß a n lassen?« entschloß sich Jean Duclos zu protestieren.
»Vielleicht … Es ist noch jemand da, den ich gern s e hen möchte: das Dienstmädchen.«
Madame Popinga schaute Any an, und diese antwo r tete:
»Sie schläft. Sie geht immer um neun Uhr ins Bett.«
»Nun, dann sagen Sie ihr, sie solle einen Augenblick herunterkommen. Sie braucht sich nicht extra anzuzi e hen.«
Und mit derselben deklamierenden Stimme wie zu Anfang wiederholte er hartnäckig:
»Beetje, Sie tanzten mit Conrad. In der Ecke wurden ernsthafte Gespräche geführt. Und einer wußte, daß j e mand sterben würde … Einer wußte, daß dies Popingas letzter Abend war …«
Man hörte Geräusche, Schritte, Türenschlagen im zweiten Stock des Hauses, wo nur die Dachzimmer l a gen.
Gemurmel kam näher. Any kam zuerst herein. Im Flur blieb eine Gestalt stehen.
»Kommen Sie!« brummte Maigret. »Jemand soll ihr sagen, sie braucht keine Angst zu haben, sie soll herei n kommen.«
Das Mädchen hatte ein weiches, großes, ausdrucksl o ses und verwirrtes Gesicht. Über ihrem Nachthemd aus kremfarbenem Molton, das bis zu den Füßen ging, hatte sie einen Mantel angezogen. Sie sah verschlafen aus, ihre Haare waren unordentlich. Sie roch nach warmem Bett.
Der Kommissar wandte sich an Duclos.
»Fragen Sie sie auf holländisch, ob sie Popingas G e liebte war.«
Madame Popinga wandte gequält den Kopf ab. Der Satz wurde übersetzt. Das Hausmädchen schüttelte ganz energisch den Kopf.
»Wiederholen Sie die Frage! Fragen Sie, ob ihr Herr nie etwas von ihr gewollt hat.«
Neuerlicher Protest.
»Sagen Sie ihr, sie kann ins Gefängnis kommen, wenn sie nicht die Wahrheit sagt! Hat er sie mal geküßt? Ging er manchmal auf ihr Zimmer, wenn sie dort war?«
Das Mädchen im Nachthemd fing plötzlich heftig zu weinen an und rief:
»Ich habe nichts getan! Ich schwöre, ich habe nichts getan.«
Duclos übersetzte. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte Any das Dienstmädchen an.
»War sie seine Geliebte?«
Aber das Dienstmädchen war nicht fähig, etwas zu sagen. Sie widersprach. Sie weinte. Sie entschuldigte sich. Sie stotterte etwas, das halb von ihrem Schluchzen erstickt wurde.
»Ich glaube nicht!« sagte schließlich der Professor. »So wie ich es verstehe, stellte er ihr nach. Wenn er allein mit ihr zu Hause war, strich er in der Küche herum. Er küßte sie. Einmal kam er in ihr Zimmer, als sie sich g e rade anzog. Er schenkte ihr heimlich Schokolade. Aber nicht mehr!«
»Sie kann wieder hinaufgehen!«
Man hörte, wie das Mädchen die Treppe hinaufging. Etwas später lief sie in ihrem Zimmer hin und her. Ma i gret sagte zu Any:
»Würden Sie bitte nachsehen, was sie macht?«
Sie erfuhren es sehr schnell.
»Sie will sofort weg! Sie schämt sich! Sie will keine Stunde länger im Haus bleiben! Sie bittet meine Schw e ster um Entschuldigung … Sie sagt, sie gehe nach Gr o ningen oder anderswohin, aber sie will nicht länger in Delfzijl bleiben …«
Und Any fügte in gereiztem Ton hinzu:
»Wollten Sie das erreichen?«
Die Uhr zeigte zehn Uhr vierzig. Eine Stimme im Radio sagte:
Unsere Sendung ist beendet. Gute Nacht, meine Damen und Herren …
Dann war von fern, ganz gedämpft, Musik eines and e ren Senders zu hören.
Maigret schaltete nervös ab, und jetzt war es plötzlich ganz still. Beetje weinte nicht mehr, verbarg aber das Gesicht in ihren Händen.
»Ging die Unterhaltung weiter?« fragte der Kommi s sar spürbar müde.
Niemand antwortete. Die Gesichtszüge wirkten hier noch versteinerter als im Saal
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