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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gab, vom Munde absparen mußte. Sie liebte uns über alles, aber mit sechzehn ist man eben gedankenlos … Ich weiß heute noch, wie abscheulich ich mich eines Tages aufführte, bloß weil ich einem Mädchen versprochen hatte, mit ihr ins Kino zu gehen …
    Mutter hatte keinen Centime, und ich hab geheult, gedroht, bis sie schließlich losgezogen ist und die Medikamente verkauft hat, die ihr irgendein Wohltätigkeitsverein gegeben hatte.
    Sehen Sie jetzt, was ich meine? … Und nun ist es ausgerechnet Jean, der dort auf diese Art umkommen mußte, unter einem falschen Namen! …
    Ich weiß nicht, was er angestellt hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er so wie ich auf die schiefe Bahn geraten ist, und Sie würden genauso denken, wenn Sie ihn als Kind gekannt hätten …
    Wissen Sie etwas darüber?«
    Maigret gab ihm den Paß zurück und fragte:
    »Kennen Sie jemanden in Lüttich mit Namen Belloir, van Damme, Janin oder Lombard?«
    »Einen Belloir schon … Der Vater war Arzt in unserm Viertel. Der Junge studierte. Aber das waren bessere Leute, mit denen ich nichts zu tun hatte.«
    »Und die anderen?«
    »Der Name van Damme kommt mir bekannt vor … Ich glaube, es gab ein großes Kolonialwarengeschäft in der Rue de la Cathédrale, das so hieß … Aber das alles liegt so weit zurück …«
    Armand Lecocq d’Arneville zögerte einen Moment, bevor er hinzufügte:
    »Könnte ich wohl Jeans Leiche sehen? Ist sie überführt worden?«
    »Sie kommt morgen in Paris an.«
    »Und es besteht kein Zweifel, daß er sich das Leben genommen hat?«
    Maigret wandte sich ab, unangenehm berührt bei dem Gedanken, daß er dessen nur allzu gewiß war, daß er dem Drama persönlich beigewohnt, es gar, ohne sein Wissen, herbeigeführt hatte.
    Sein Gesprächspartner drehte die Mütze in den Händen, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere, während er darauf wartete, verabschiedet zu werden. Seine tief in ihre Höhlen gebetteten Augen, deren Iris wie graue Konfetti unter den blassen Lidern sichtbar waren, beschworen so eindringlich den demütig-gepeinigten Blick des Reisenden von Neuschanz herauf, daß es Maigret einen scharfen Stich – nicht unähnlich Gewissensbissen – in der Herzgegend gab.

6
    Die Gehängten
    Es war neun Uhr abends, und Maigret hatte es sich in seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir ohne falschen Kragen und Weste bequem gemacht, seine Frau saß über ihrer Näharbeit, als Wachtmeister Lucas eintrat und seine vom strömenden Regen völlig durchnäßten Schultern schüttelte.
    »Der Mann ist abgereist«, sagte er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihm ins Ausland folgen sollte …«
    »Nach Lüttich?«
    »Ja. Sie wissen schon Bescheid? Sein Gepäck war im Hôtel du Louvre. Er hat dort Abendbrot gegessen, sich umgezogen und dann den Schnellzug um acht Uhr neunzehn nach Lüttich genommen. Hinfahrtbillett erster Klasse. Am Bahnhofskiosk hat er noch einen ganzen Stapel Zeitschriften gekauft …«
    »Man könnte meinen, er läuft mir absichtlich andauernd über den Weg!« brummte der Kommissar. »In Bremen, als ich noch nicht die geringste Ahnung von seiner Existenz hatte, ist er im Leichenschauhaus aufgetaucht, hat mich zum Essen eingeladen, sich wie eine Klette an mich gehängt … Ich komme nach Paris: und er ist auch da, ein paar Stunden früher oder später als ich; früher höchstwahrscheinlich, wo er ja das Flugzeug genommen hat … Ich fahre nach Reims, und er ist vor mir da … Vor einer halben Stunde nun habe ich mich entschlossen, mich morgen nach Lüttich aufzumachen, und siehe da, er ist schon seit heut abend dort! … Aber, was mich bei der Sache am meisten ärgert, ist, daß er genau weiß, daß ich kommen werde, und daß seine Anwesenheit dort fast Grund zu einer Anklage liefert.«
    Und Lucas, der nichts über den Fall wußte, äußerte die Vermutung:
    »Vielleicht versucht er, den Verdacht auf sich zu lenken, um jemand anderen zu schützen …«
    »Geht es um ein Verbrechen?« fragte Madame Maigret friedfertig und ohne ihre Näharbeit zu unterbrechen.
    Ihr Mann aber erhob sich seufzend und mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Sessel, in dem er es sich einen Moment zuvor so bequem gemacht hatte.
    »Um wieviel Uhr geht der nächste Zug nach Belgien?«
    »Jetzt bleibt bloß noch der Nachtzug um einundzwanzig Uhr dreißig. Er ist gegen sechs Uhr früh in Lüttich.«
    »Bist du so gut und packst meine Sachen?« bat der Kommissar seine Frau. »Was zu trinken, Lucas? Nimm dir, was du

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