Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
geboren«, fuhr der Kommissar, einen Blick in den Paß werfend, fort, »fünfunddreißig Jahre alt und von Beruf?«
»Momentan bin ich Bürodiener bei einer Fabrik in Issy-les-Moulineaux. Wir wohnen in Grenelle, meine Frau und ich.«
»Hier steht Maschinenschlosser …«
»Das war ich früher … Ich hab überall mal die Nase reingesteckt.«
»Sogar ins Gefängnis!« stellte Maigret in dem Paß blätternd fest. »Sie sind Deserteur …«
»Seitdem hat es eine Amnestie gegeben … Lassen Sie mich erklären! Mein Vater hatte Geld, er war Leiter einer Reifenhandlung, aber er hat meine Mutter verlassen, als ich erst sechs Jahre alt war und mein Bruder Jean drei. So hat alles angefangen …
Wir mußten in eine kleine Wohnung in der Rue de la Province in Lüttich ziehen. Zuerst hat mein Vater uns noch ziemlich regelmäßig Geld überwiesen.
Er selbst lebte auf großem Fuß, hielt sich Mätressen … Einmal, als er uns das Unterhaltsgeld brachte, hatte er eine Frau dabei, die unten im Wagen auf ihn wartete.
Es gab unerfreuliche Auftritte … Vater zahlte nicht mehr oder nur noch einen Teil des Geldes. Mutter hat als Putzfrau gearbeitet und ist mit der Zeit ziemlich irr geworden.
Nicht so irr, daß sie in eine Anstalt mußte, aber sie sprach Leute an, um ihnen etwas vorzujammern und weinte auf offener Straße …
Von meinem Bruder habe ich nicht viel gesehen. Ich trieb mich mit den Jungen aus der Nachbarschaft herum. X-mal wurden wir auf die Polizeiwache gebracht, bis sie mich dann bei einem Eisenwarenhändler in die Lehre gegeben haben.
Ich bin so wenig wie möglich heimgegangen, wo Mutter immerfort heulte, all die alten Weiber der Umgebung hockten und einander etwas vorplärrten … Mit sechzehn bin ich zum Militär gegangen, hab mich gleich für den Kongo gemeldet. Da bin ich aber bloß einen Monat geblieben. Acht Tage hab ich mich in Matadi versteckt und mich dann auf einem Dampfer, der nach Europa zurückfuhr, als blinder Passagier eingeschifft.
Sie haben mich entdeckt; ich mußte ins Gefängnis. Dann bin ich ausgebrochen und nach Frankreich rüber. Dort hab ich als alles mögliche gearbeitet …
Ich hab gehungert und in den Markthallen geschlafen. Mag sein, daß ich mich nicht immer glorreich verhalten habe, aber seit vier Jahren, darauf geb ich Ihnen mein Wort, führe ich ein ordentliches Leben!
Ich hab sogar geheiratet! Meine Frau ist Fabrikarbeiterin. Sie hat die Stellung nicht aufgegeben, denn gut verdiene ich nicht, und manchmal bin ich auch arbeitslos …
Ich hab nie versucht, nach Belgien zurückzugehen … Meine Mutter soll in einer Irrenanstalt gestorben sein, hat man mir erzählt, und mein Vater lebt anscheinend noch.
Aber er hat sich eh nie um uns gekümmert … Er hat eine neue Familie …«
Der Mann verzog die Lippen zu einem schiefen, Entschuldigung heischenden Lächeln.
»Und was ist mit Ihrem Bruder?«
»Bei ihm war es ganz anders. Jean war ein gewissenhafter Junge. Er bekam ein Stipendium, um das Gymnasium besuchen zu können … Er war erst dreizehn, als ich Belgien verließ und in den Kongo ging. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Nur hin und wieder, wenn ich zufällig jemand aus Lüttich traf, habe ich etwas über ihn erfahren. Irgend jemand soll dafür gesorgt haben, daß er zur Universität gehen konnte.
Das war vor zehn Jahren. Niemand von den Leuten, die mir seitdem über den Weg gelaufen sind, hat mir etwas über ihn sagen können; manche meinten, er müsse ins Ausland gegangen sein, weil man so gar nichts mehr von ihm höre.
Das war vielleicht ein Schlag, als ich die Fotografie sah! Und besonders der Gedanke, daß er in Bremen umgekommen ist, unter einem falschen Namen …
Sie werden das vielleicht nicht verstehen … Bei mir ist eben von Anfang an alles schief gegangen; ich habe versagt, hab Dummheiten gemacht …
Aber wenn ich an Jean denke, wie er mit dreizehn war … Wir sahen uns ähnlich, nur war er irgendwie ausgeglichener, ernsthafter eben … Er las damals schon Gedichte und hockte nächtelang über seinen Büchern, ganz allein, beim Licht von Kerzenstummeln, die ihm ein Küster schenkte.
Ich war überzeugt, daß er es zu etwas bringen würde, denn – sehen Sie – schon als Junge lag ihm nichts ferner, als auf der Straße herumzulungern. Das ging so weit, daß die Gassenjungen unseres Viertels sich über ihn lustig machten.
Ich dagegen war immer knapp an Geld, hab mich nicht einmal gescheut, es unserer Mutter abzubetteln, die sich alles, was sie mir
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