Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
aus derselben Periode! All diese schaurigen, zehn Jahre zuvor angefertigten Zeichnungen hingen hier neben Bilderfolgen für Witzblätter, neben Kalenderentwürfen, Ardennenlandschaften und Werbeplakaten.
Auch das Motiv des Kirchturms tauchte fortwährend auf, und die ganze Kirche, mal von vorn, mal von der Seite, mal von unten gesehen, oder dann nur das Portal, die Wasserspeier, oder der Vorplatz mit den sechs Stufen, welche die Perspektive ungeheuerlich erscheinen ließen.
Immer dieselbe Kirche! Und wie Maigret so Wand für Wand abschritt, spürte er, wie van Damme unruhig wurde, spürte das wachsende Unbehagen des Mannes, den womöglich dieselbe Versuchung wie bei der Schleuse von Luzancy plagte.
Solcherart verging eine Viertelstunde, dann kam Jef Lombard zurück. Seine Augen schimmerten feucht, und er strich eine Haarsträhne zurück, die ihm in die Stirn fiel.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »meine Frau hat eben ein Kind zur Welt gebracht – ein Mädchen …«
Ein Anflug von Stolz schwang mit in seiner Stimme, zugleich aber irrte sein Blick beim Sprechen mit einem gequälten Ausdruck von Maigret zu van Damme.
»Es ist unser drittes Kind; trotzdem nimmt es mich genauso mit wie beim erstenmal! … Sie haben meine Schwiegermutter gesehen, nicht? Die hat selbst elf zur Welt gebracht und ist doch ganz außer sich vor Freude. Sie ist gleich mit der guten Nachricht zu den Arbeitern gelaufen, wollte sie aus der Werkstatt holen, um ihnen das Baby zu zeigen! …«
Seine Augen folgten denen Maigrets, die auf den Kirchturm mit den beiden Gehängten gerichtet waren. Er wurde noch nervöser, murmelte sichtlich betreten:
»Jugendsünden … Eine sehr schlechte Zeichnung, aber damals glaubte ich noch, mal ein großer Künstler zu werden.«
»Ist das eine Kirche hier in Lüttich?«
Jef zögerte mit der Antwort. Beinahe widerwillig erklärte er:
»Sie steht nicht mehr … Ist vor sieben Jahren abgerissen worden, um einer neuen Platz zu machen. Sie war nicht schön, hatte eigentlich überhaupt keinen Stil, aber durch ihr Alter wirkte sie irgendwie geheimnisvoll in der Form, mit den Gassen ringsumher, die inzwischen auch verschwunden sind …«
»Und wie hieß sie?«
»Saint-Pholien … Die neue, die an derselben Stelle steht, heißt auch so.«
Joseph van Damme hatte eine solche Unruhe ergriffen, daß man hätte meinen können, jeder Nerv seines Körpers peinige ihn; es war eine versteckte Unruhe, die sich nur durch kaum merkliche Anzeichen verriet, durch die Unregelmäßigkeit seiner Atemzüge, das Beben der Finger, das Schwingen seines gegen den Schreibtisch gelehnten Beins.
»Waren Sie damals schon verheiratet?« fragte Maigret.
Lombard lachte.
»Ich war neunzehn, ging auf die Akademie … Hier, sehen Sie!«
Wehmütig wies er auf ein mißlungenes Porträt in düsteren Tönen, auf dem sein Gesicht trotz allem, der auffallenden Unregelmäßigkeit der Züge wegen, zu erkennen war. Es zeigte ihn mit langem, in den Nacken fallendem Haar und einem schwarzen, hochgeschlossenen Kittel, über den sich eine weitausladende Künstlerschleife bauschte.
Von solch ungezügelter Romantik war das Bild, daß selbst der traditionelle Totenschädel im Hintergrund nicht fehlte.
»Wenn man mir damals gesagt hätte, daß ich einmal Fotograveur werden würde …!« bemerkte Jef Lombard bitter.
Er schien van Dammes Gegenwart nicht als weniger lästig zu empfinden als die Maigrets, wußte aber ganz offenbar nicht, wie er die beiden loswerden sollte.
Ein Arbeiter kam, um sich nach einem Klischee zu erkundigen, das noch nicht fertig war.
»Sie sollen heut nachmittag wiederkommen!«
»Das ist offenbar zu spät.«
»Nicht zu ändern! Sag, daß ich eine Tochter bekommen habe …«
Aus seinen Augen, seinen Gesten, der Blässe seines mit Säureflecken besprenkelten Gesichts sprach eine undefinierbare Mischung von Freude, Unruhe und vielleicht sogar Furcht.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? … Drüben, in der Wohnung …«
Zu dritt gingen sie die verschachtelten Korridore entlang und durch die Tür, welche die Alte Maigret vorher geöffnet hatte.
Ein Hausflur mit blauen Kacheln, in dem es nach Reinlichkeit roch, gleichzeitig aber auch nach verbrauchter Luft, die Ausdünstungen eines Krankenzimmers vielleicht.
»Die beiden anderen Kinder sind bei meinem Schwager. Hier entlang …«
Jef Lombard öffnete die Tür zum Eßzimmer. Durch die kleinen Fensterscheiben drang nur wenig Tageslicht in den Raum, das auf den überall
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